
Gastbeitrag von Dernier Cri
Dernier Cri ist ein Freund von MEWE, früher Google+.
Er präsentiert einen „Junge Welt“-Artikel zum Thema „Wikipedia“. DIE TROMMLER benutzt ja auch Wikipedia als Quelle, arbeitet die Artikel aber um.
Kurz ausgedrückt: Man kann dem bürgerlichen Medium Wikipedia zu großen Teilen auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft vertrauen. Sobald jedoch weltanschauliche und geschichtliche Aspekte berührt werden, sollte man beachten, dass hier die Bourgeoisie ausschließlich ihre Interessen wahrt bzw. lügt wie gedruckt. Vernunft und Verstand sollten beim Konsum dieses Lexikons stets aktiviert bleiben.
Zitat: „Rotlicht: Wikipedia
Von Sebastian Carlens
Hier hat die digitale Revolution brutal zugeschlagen: Galt vor einigen Jahren noch der 24bändige »Brockhaus« oder gar die »Encyclopædia Britannica« als letzter Ausweis bildungsbürgerlicher Expertise, haben diese Konvolute heute gerade noch Trödlerwert. Dasselbe Schicksal ereilte die bereits multimediale Enzyklopädie »Encarta« von Microsoft. Sie wurde auf CD verkauft, heute gibt es sie nicht mehr.
Durchgesetzt hat sich ein ganz anderes Modell: die Wikipedia. Das Kunstwort setzt sich aus dem hawaiianischen Begriff für »schnell« und, klar, der »Enzyklopädie«, dem umfassenden Nachschlagewerk, zusammen. Die Idee dahinter ist sogar älter als das Internet: Die miteinander verknüpften Inhalte sollen durch alle Anwender nicht nur les-, sondern auch veränderbar sein. Das »Wiki« protokolliert dies, die Originalzustände gehen also nie verloren. Das entspricht ziemlich genau den ersten, recht technikoptimistischen Entwürfen, die sich mit einem weltweiten Datennetz beschäftigten, noch bevor die technischen Bedingungen dafür wirklich reif waren. Mit dem »World Wide Web« sollte sich das ändern. Mittlerweile hat, zumindest in den Industrieländern, die Mehrheit der Menschen Zugang zum »Netz«.
Gratis soll alles Wissen allen zugänglich werden; mitarbeiten können soll jeder: eine demokratische Idee, die gut zur sich wandelnden »IT-Gesellschaft« passt. Mit dem Siegeszug der Wiki-Technologie sollte der Beweis erbracht sein, dass kollektive Intelligenz der individuellen überlegen ist. Und dass das Preisschild nichts über die Qualität aussagt. Oder?
Weder Internet noch Wikipedia existieren im luftleeren Raum. Und so nimmt es nicht wunder, dass die – zu einer Art lexikalischem Monopol gewordene – Wikipedia im Zentrum des wirtschaftlichen und politischen Interesses steht. Sucht der Mensch im Internet, wird der entsprechende Wikipedia-Eintrag stets unter den ersten Treffern sein. Wird für eine Hausarbeit recherchiert: Wikipedia ist längst Standardquelle. Über zwei Millionen deutschsprachige Artikel verzeichnet das Onlinelexikon im Mai 2017. Erstellt und bearbeitet von mehr als 2,6 Millionen Nutzern.
Und von PR-Abteilungen. Denn für eine Firma ist der Eintrag mittlerweile beinahe so wichtig wie alle anderen Werbemaßnahmen zusammen. Die Reichweite ist enorm, das Vertrauen in die Seriosität der Artikel hoch. Nicht nur das »Frisieren« der eigenen Angaben, auch das Schlechtreden der Konkurrenz ist ein Problem: Sich aneinander abarbeitende PR-Abteilungen haben schon monatelange Editier-Kriege ausgefochten.
Darauf hat das Lexikon, das der Wikimedia-Stiftung aus den USA gehört, reagiert, immerhin versteht es sich als nichtkommerziell. Moderatoren verfügen über erhebliche Macht. Und auch das Grundprinzip, nämlich die Veränderbarkeit aller Inhalte durch jedermann, wird nicht mehr konsequent eingehalten. Wenn es spannend wird, können Artikel blockiert werden. Dann entscheiden: Moderatoren.
Eine solche Aufsicht kann sinnvoll sein – eine falsche Formel in einer physikalischen Abhandlung wird nicht durch Abstimmung richtig, dafür gibt es objektive Kriterien. Doch sobald das Feld der Naturwissenschaften verlassen ist, es also um die ideengeschichtliche Einordnung geht, greift das bemühte Konzept der Objektivität nicht mehr. Ob die russische Oktoberrevolution ein fortschrittliches Ereignis war, beurteilen große Teile der Menschheit beispielsweise sehr unterschiedlich.
Hier gilt das als neutral, was der Staat bestimmt. Das Geschichtsbild bei Wikipedia unterscheidet sich nicht vom bürgerlichen Weltbild, und starke Interessengruppen innerhalb der Moderatorenschaft sorgen für Einhaltung der Lehrmeinung, z. B. der sogenannten Extremismusdoktrin, die links und rechts gleichzusetzen versucht. Die letztlich privatwirtschaftlich organisierte Wikipedia bietet darauf keine demokratischen Reaktionsmöglichkeiten.“
Ausgabe vom 17.05.2017, Seite 14 / Feuilleton
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/310862.rotlicht-wikipedia.html
