Der Kiewer Staat – ein machtvolles Reich der Ostslawen

1. Die Slawen – die Ureinwohner Russlands

Die Slawen und ihre Vorfahren bewohnten unter verschiedenen Bezeichnungen seit unvordenklichen Zeiten die gewaltige Osteuropäische Tiefebene. Den römischen Schriftstellern des 1. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (vor Christi) waren die Slawen unter dem Namen Venedae (Weneder, Wenden) bekannt. Die byzantinischen Schriftsteller des 6. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung (nach Christi) kannten die Slawen unter der Bezeichnung Slowenen und Anten. Laut den Mitteilungen der Schriftsteller der Alten Welt wohnten die Slawen im Raume zwischen der Donaumündung und dem Asowschen Meer und zwischen dem Oberlauf der Weichsel und dem Oberlauf des Dnjepr und der Oka.

Die Slawen werden eingeteilt in Süd-, West- und Ostslawen. Die West- und Südslawen wohnten in Westeuropa, die Ostslawen sei den ältesten Zeiten am Dnjepr, seinen Nebenflüssen und rund um den Ilmensee.

Die Ostslawen beschäftigten sich seit alters her mit Ackerbau. Sie holzten Kleingehölze aus oder brannten irgendein Waldstück ab. Mit einer schweren Aste gruben sie den Boden um, vermengten ihn mit Asche und säten Korn. Wenn die Erde erschöpft war, wurde das Feld aufgegeben und ein neuer Acker ausgebrannt. Eine solche Bodenbearbeitung nennt man Brandkultur oder Rodewirtschaft. In den Steppengegenden wurde die Erde mit der Hacke aufgegraben. Wurden die Erträge schlecht, dann ging man auf neues Land über und gab das alte Feld auf. Ein solcher Ackerbau wird Brachwirtschaft genannt. Auf ihren Feldern bauten sie Slawen Hirse, Gerste, Roggen und Flachs an.

Neben dem Ackerbau nahmen Jagd, Bienenzucht und Fischerei einen großen Raum in der Wirtschaft der Slawen ein.

Die Slawen wohnten sippenweise. Zur Sippe zählten sämtliche Verwandten, die zusammenlebten und gemeinsam wirtschafteten. Die Herden, die Weideplätze, die Äcker bildeten das gemeinsame Eigentum der Sippe. Alles das, was notwendig war, wurde in gemeinsamer Wirtschaft getan.

An der Spitze der Sippe stand der Sippenälteste: der „Starejschina“, aber er traf keine Entscheidung ohne den Rat der übrigen Männer der Sippe.

Für einen erschlagenen Sippenangehörigen rächten sich die Slawen an dem Mörder und seinen Verwandten durch die Blutrache. Infolgedessen kamen zwischen den einzelnen Sippen häufig Zusammenstöße vor.

Zum Schutz gegen Feinde legten die Slawen auf Hügeln oder an anderen geeigneten Orten Befestigungen an und umgaben sie mit einem Erdwall und mit einem Pfahlzaun. Die Reste von solchen Befestigungsanlagen oder prähistorischen Siedlungen – „Gorodischtsche“-treffen wir noch jetzt (Stand 1947) in vielen Gegenden Russlands an.

Die Schriftsteller des Altertums bezeichnen die Slawen gewöhnlich als ein tapferes, kriegerisches und freiheitsliebendes Volk. Ein byzantinischer Schriftsteller des 6. Jahrhunderts, Mawrikij (Mauritius), schrieb, dass die Stämme der Slawen und der Anten die gleiche Lebensweise und die gleichen Sitten hätten; sie liebten die Freiheit und wären nicht geneigt, sich weder versklaven noch sich unterjochen zu lassen. Sie seien tapfer und ausdauernd, ertrügen leicht Kälte und Hitze, sowie Mangel an Bekleidung und Nahrung. Sie slawischen Jünglinge beherrschten sehr geschickt das Waffenhandwerk.

Bei den Slawen waren sämtliche Männer bewaffnet. Sie waren ein bewaffnetes Volk, das bereit war, mit ganzem Herzen seine Freiheit und Unabhängigkeit gegen die Anschläge der äußeren Feinde zu verteidigen. Die Slawen unternahmen große Feldzüge in die Länder ihrer Nachbarn. Besonders lockten sie die Reichtümer von Byzanz, des östlichen Teils des Römischen Reiches.

Im 6. Und 7. Jahrhundert hatte Byzanz schon nicht mehr mit einzelnen slawischen Stämmen, sondern mit größeren politischen und militärischen Vereinigungen der Ostslawen zu kämpfen.

Ursprünglich waren in der Sippe alle gleich. Mit der Entwicklung des Ackerbaus, der Viehzucht, der Fischerei begannen sich bei den Slawen überschüssige Arbeitsprodukte anzuhäufen. Das Privateigentum entstand. Nach und nach begannen die Wirtschaften der einzelnen Familien sich abzusondern. Jede Familie bestellte ihr Ackerstück und erntete für sich. Nur die Wälder, Weideplätze, die Flüsse und Seen waren, wie bisher, gemeinschaftlicher Besitz. Die Bewohner der Umgegend bildeten eine Bauerngemeinde. Aber das war schon keine Sippengemeinschaft mehr, zu ihr gehörten sämtliche in der Nähe lebenden Nachbarn. Eine solche, aus Nachbarn bestehende Gemeinde wurde bei den Slawen „Mir“ genannt.

In den Händen einzelner Mitglieder der Sippe sammelte sich nach und nach ein großer Grundbesitz an. Die Wohlhabendsten der Sippenmitglieder wurden Sippenälteste, in Kriegszeiten aber wurden sie Heerführer oder Fürsten.

Die Fürsten erhielten von der Kriegsbeute und den Gefangenen den Löwenanteil. Dies gestattete ihnen, ständige Abteilung von Kriegern oder „Drushiny“ (Kriegsgefolge) zu halten, mit deren Hilfe sie das Volk in Zucht hielten. Die Sippenältesten und Stammesfürsten wurden anfangs von den Volksversammlungen gewählt, und sie regierten gemäß den Entscheidungen der Volksversammlung oder „Wjetsche“ (vom Wort „wjeschtschatj“=sprechen).

Auf diese Weise wurden die Anfänge der staatlichen Macht geschaffen. Von den frühesten Anfängen der staatlichen Organisation der Slawen sich die Vereinigungen der antischen Fürsten im 6. Jahrhundert und der Karpathoslawen (Duleben) im 6. Und 7. Jahrhundert bekannt.

Später, im 9. Jahrhundert, bildete sich ein solches Fürstentum im Norden Russlands bei den Ilmenslawen mit Nowgorod an der Spitze. Ein anderes wurde im Süden geschaffen, bei dem slawischen Stamm der Poljanen, mit Kiew an der Spitze. Gleichzeitig mit dem Kiewer und dem Nowgoroder Fürstentum entstanden im Raum Osteuropa noch andere slawische Fürstentümer. Auf diese Weise ergab sich als Resultat der inneren Entwicklung der slawischen Gesellschaft der Zerfall der alten Sippenorganisation, und es wurden Bedingungen für die Entstehung eines Staates geschaffen.

2. Das Kiewer Rusj („das Land der Russy“=Russland)

Am Ende des 9. Jahrhunderts vereinigten sich die einzelnen Fürstentümer der Ostslawen zu einem großen Staat, der sich von den Ufern der Ostsee bis zum Dnjepr erstreckte. Anstelle von zwei Zentren der Ostslawen: Kiew und Nowgorod, wurde Kiew die Hauptstadt des Staates.

Malerisch auf den Hügeln des Dnjepr sich erstreckend, lag Kiew im Zentrum wichtiger Handelsstraßen jener Zeit. Auf dem Dnjepr bei Kiew legten viele Handelsschiffe an. Unten an der Anlegestelle, entstand eine Siedlung von Handwerkern und Kaufleuten: Podol. In der Stadt fand ein lebhafter Handel auf Märkten statt. Die Kiewer trieben mit den Kaufleuten aus dem Osten und Westen Handel. Geld gab es auch, da es in großen Mengen aus dem Orient kam. Vor dem 10. Jahrhundert an begannen die Ostslawen eigene Silbermünzen mit den Bildnissen ihrer Fürsten zu prägen. Dieses Geld hatte ebenso Geltung wie die Silberbarren – die „Griwny“.

Kiew trieb seit alters Her einen ständigen Handel mit Byzanz. Die Griechen nannten sie Sklaven, die das nördliche Küstenland des Schwarzen Meeres bewohnten, bald Skythen, bald den Stamm Ros oder Rusj. Der Name Rusj war in der Mitte des 9. Jahrhunderts bereits im südlichen Küstenland des Schwarzen Meeres und im Norden, im Gebiet des Ladoga- und des Ilmensees, verbreitet. Den Namen Rusj kannten nicht nur die Byzantiner, sondern auch die Araber.

Die Russy, geführt von ihren Fürsten, unternahmen kühne Kriegszüge außerhalb der Grenzen ihres Landes. Es sind Angaben vorhanden, dass die Kiewer Fürsten im Jahre 860 einen erfolgreichen Angriff auf Zarjgrad – so nannten die Slawen die Hauptstadt des Byzantinischen (oströmischen) Reiches – ausführten. Eine Chronik berichtet darüber, dass der Kiewer Fürst Oleg einen großen, siegreichen Feldzug gegen Byzanz unternahm. Im Jahre 911 schloss Oleg einen Vertrag mit den Griechen. Laut diesem Vertrag erhielt er reiche Geschenke und erlangte Privilegien für die russischen Kaufleute.

Nach Oleg regierte Igor in Kiew. Die Chronik berichtet, dass sein gegen Byzanz unternommener Feldzug missglückte. Danach soll Igor eine noch größere Anzahl slawischer Krieger aufgeboten und auch die Petschenegen, die aus Asien gekommen waren und in den russischen Steppen nomadisierten, gedungen und sich zu einem neuen Kriegszug gegen Byzanz aufgemacht haben. Der byzantinische Kaiser schickte dem russischen Heer seine Gesandten mit einem vorteilhaften Friedensangebot entgegen. Mit reichen Geschenken kehrte Igor nach Kiew zurück. Im Jahre 944 wurde zwischen Byzanz und Rusj ein neuer Vertrag abgeschlossen.

Für den Handel mit den Griechen waren Felle, Wachs und Honig erforderlich. Alles dies verschafften sich die Kiewer Fürsten auf dem Wege des Tributs von den benachbarten slawischen Stämmen. Einen Teil des vereinnahmten Tributs gaben sie ihren Kriegsmannen für geleistete Dienste ab. Diejenigen, die Tribut (russisch „Danj“) leisteten, wurden Untertanen (russisch „Poddannnyje“ – Tributpflichtige) genannt.

Einst, so erzählt die Chronik, begab sich Igor mit seinen Mannen zwecks Tributerhebung in das Gebiet des slawischen Stammes der Drewljanen. Nach Empfang des Tributs entschloss sich Igor, den Rundgang mit einem kleinen Kriegsgefolge zu wiederholen. Als die Drewljanen erfuhren, dass Igor ein zweites Mal zwecks Tributerhebung kommen wird, sagten sie: „Wenn der Wolf zu oft bei den Schafen zu Gaste geht, wird der die ganze Herde wegschleppen, falls man ihn nicht erschlägt.“ Sie ergriffen Igor und seine Mannen und erschlugen sie.

Zu jener Zeit war Swjatoslaw, Igors Sohn, noch ein Kind. An seiner Stelle regierte seine Mutter, die Fürstin Olga den Staat. Nach der Überlieferung soll sie den Tod ihres Mannes an den Drewljanen grausam gerächt haben.

Swjatoslaw war ein kriegerischer und tapferer Fürst. Zusammen mit seinem Kriegsgefolge führte er ein raues Kriegsleben. Auf den Kriegszug nahm er keinen Tross und selbst nicht einmal Zelte mit. Er schlief mit dem Sattel unter dem Kopf auf der Erde. Wenn Swjatoslaw ins Feld zog, benachrichtigte er den Feind mit den Worten: „Ich komme über Euch!“

Auf den Kähnen über die Oka bis zur Wolga vordringend, fuhr Swjatoslaw auf der Wolga zunächst in das Gebiet der Kamabulgaren und besiegte sie. Von hier aus richtete er seinen Schlag gegen die Chasaren, in deren Gewalt sich viele russische Gebiete befanden. Nachdem Swjatoslaw das Reich der Chasaren zerstört hatte, unternahm er einen Feldzug gegen den Nordkaukasus und in das Gebiet des Asowschen Meeres.

Die Ostfeldzüge Swjatoslaws rückten die Grenzen des russischen Gebietes weit nach Osten vor. Der byzantinische Kaiser, der den Kriegsruhm Swjatoslaws hoch einschätzte, schloss mit ihm ein Bündnis gegen die Donaubulgaren. Swjatoslaw eroberte Donaubulgarien und blieb dort in der Stadt Perejaslawez wohnen. Nach der Überlieferung soll Swjatoslaw seiner Mutter und den Bojaren gesagt haben: „Mir gefällt es nicht, in Kiew zu wohnen. Dort ist die Mitte meines Landes, dort strömen alle Güter zusammen: von den Griechen Gold, Seide, Wein, verschiedene Früchte; von den Tschechen und Ungarn – Silber und Pferde; aus Rusj – Felle, Honig, Sklaven.“

Byzanz hatte vor einem so starken und drohenden Gegner Furcht bekommen. Der byzantinische Kaiser Johann Tzimiskes stellte ein großes Heer auf, zog auch die Bulgaren auf seine Seite und begann, gegen Swjatoslaw Krieg zu führen. In den Kämpfen mit den Griechen bewiesen Swjatoslaws Truppen viel Tapferkeit, Furchtlosigkeit und Standhaftigkeit. Die Verteidigung der Stadt Dorostol an der Donau durch Swjatoslaw war besonders heldenhaft. Eine gewaltige griechische Armee rückte gegen die Stadt vor. Zwanzigtausend Krieger des Swjatoslaw, in leichte Kettenpanzer gekleidet und mit großen, nach unten schmaler werdenden Schilden ausgerüstet, stellten sich den feindlichen Angriffen gleichsam wie eine lebendige Mauer entgegen. Zwölfmal führte der byzantinische Kaiser seine Krieger zum Angriff, endlich stand er davon ab und befahl, die Stadt einzuschließen. Drei Monate lang dauerte die Belagerung von Dorostol. In der Stadt brach eine Hungersnot aus. Die Griechen führten Belagerungsmaschinen an die Stadtmauer heran und begannen, die Stadt mit Feuer und Steinen zu überschütten. Die Kräfte Swjatoslaws schwanden dahin. Im Kriegsrat schlugen einige Heerführer ihm vor, abzuziehen und zu versuchen, während der Nacht in Kähnen auf der Donau zu entfliehen. Nach den Berichten eines griechischen Autors weigerte sich Swjatoslaw, zu fliehen. Er sagte zu seinen Kriegern: „Der Ruhm, der Gefährte der russischen Waffen, die mühelos die Nachbarvölker besiegt und ohne Blutvergießen ganze Länder unterworfen haben, wird dahinschwinden, wenn wir jetzt den Römern (so nannte Swjatoslaw die Byzantiner) nachgeben. Lasst uns also mit der Tapferkeit unserer Vorfahren und mit dem Gedanken, dass die russische Kraft bis jetzt unüberwindlich war, männlich um unser Leben kämpfen. Bei uns ist es nicht Brauch, uns durch die Flucht in unser Vaterland zu retten, sondern entweder als Sieger am Leben zu bleiben oder aber nach Vollbringung ruhmvoller Heldentaten in Ehren zu sterben!“

Swjatoslaws Krieger schlugen sich grimmig, aber die Kräfte waren ungleich. Verstärkungen aus Kiew trafen nicht ein. Infolgedessen bot Swjatoslaw dem Kaiser Frieden an, mit der gleichzeitigen Verpflichtung, Bulgarien zu räumen.

Nach dem Abschluss der Friedenbedingungen sagte Swjatoslaw zu seinen Kriegern: „Ich werde nach Rusj zurückkehren und ein großes Kriegsgefolge herbeiführen.“  Es gelang ihm jedoch nicht, seine Absicht zu verwirklichen. Die Byzantiner benachrichtigten die Petschenegen, dass Swjatoslaw mit einer großen Kriegsbeute, aber einem kleinen Kriegsgefolge nach Rusj zurückkehrt. An den Stromschnellen des Dnjepr, wo die Russen ihre Boote schleppen mussten, überfielen die Petschenegen Swjatoslaws Krieger und erschlugen ihn und seine Mannen. Der Fürst der Petschenegen befahl, aus dem Schädel Swjatoslaws einen Becher für sich zu machen. Er ließ ihn vergolden und trank aus ihm bei seinen Gelagen.

Swjatoslaws jüngster Sohn, Wladimir, fuhr fort, den Kiewer Staat zu erweitern und zu stärken. Es war die Blütezeit der Kiewer Rusj, Dem Fürsten Wladimir gelang es, die endgültige Vereinigung der ostslawischen Gebiete in einem einzigen Staat durchzuführen und seine internationale Stellung zu festigen. Wladimir machte einige erfolgreiche Feldzüge und empfing pünktlich den Tribut von den unterworfenen Völkern. Der Reichtum des Fürsten selbst und seiner Mannen vermehrte sich beträchtlich. Einst beklagte sich das Kriegsgefolge beim Fürsten, dass es bei den Gelagen mir hölzernen statt mir silbernen Löffeln essen müsse. Wladimir befahl, für das Kriegsgefolge silberne Löffel anzufertigen und sagte: „Für Gold und Silber kann ich kein Kriegsgefolge finden, aber mit dem Kriegsgefolge werde ich Gold und Silber finden, so wie mein Großvater und mein Vater es gefunden haben.“

Während der Kriege und der Handelsreisen nach Byzanz machten sich Wladimir und sein Kriegsgefolge mit dem Leben der Griechen bekannt. Sie fanden an dem Prunk des griechischen Kaiserhofes und an der Pracht der byzantinischen Kirchen Gefallen. Die griechischen christlichen Geistlichen lehrten, dass der Kaiser von Gott und den Thron gesetzt sei, dass das Volk sich in allem dem Kaiser wie Gott selbst unterwerfen solle. Der neue christliche Glaube erhielt unter dem Einfluss von Byzanz um diese Zeit eine bedeutende Ausbreitung sowohl unter den Süd- und Westslawen (besonders in Bulgarien und in Tschechien) wie auch in Rusj. Wladimirs Großmutter und viele Krieger des Fürsten waren bereits Christen. Wladimir beschloss, das Christentum zur Staatsreligion zu erklären. Die Chronik erzählt, dass Wladimir seine Boten zur „Erforschung des Glaubens“ in verschiedene Länder schickte. Zurückgekehrt, lobten die Boten besonders den griechischen Christenglauben. Im Jahre 988 taufte sich Wladimir selbst und befahlt, die Taufe des Volkes im Lande Rusj durchzuführen.

Während der Kriege und der Handelsreisen nach Byzanz machten sich Wladimir und sein Kriegsgefolge mit dem Leben der Griechen bekannt. Sie fanden an dem Prunk des griechischen Kaiserhofes und an der Pracht der byzantinischen Kirchen Gefallen. Die griechischen christlichen Geistlichen lehrten, dass der Kaiser von Gott und den Thron gesetzt sei, dass das Volk sich in allem dem Kaiser wie Gott selbst unterwerfen solle. Der neue christliche Glaube erhielt unter dem Einfluss von Byzanz um diese Zeit eine bedeutende Ausbreitung sowohl unter den Süd- und Westslawen (besonders in Bulgarien und in Tschechien) wie auch in Rusj. Wladimirs Großmutter und viele Krieger des Fürsten waren bereits Christen. Wladimir beschloss, das Christentum zur Staatsreligion zu erklären. Die Chronik erzählt, dass Wladimir seine Boten zur „Erforschung des Glaubens“ in verschiedene Länder schickte. Zurückgekehrt, lobten die Boten besonders den griechischen Christenglauben. Im Jahre 988 taufte sich Wladimir selbst und befahlt, die Taufe des Volkes im Lande Rusj durchzuführen.

Die Annahme des Christentums hatte große und sehr positive Bedeutung für die Festigung des Kiewer Staates. Er wurde dadurch in eine Reihe mit den mächtigen christlichen Staaten des Westens gestellt. Viele gebildete griechische Geistliche kamen nach Rusj und verbreiteten neben dem christlichen Glauben auch griechische Bücher. Die christliche Kirche wurde zur Pflanzstätte der Kunst des Lesens und Schreibens sowie sonstiger Bildung.

Nach dem Tode des Fürsten Wladimir begann unter seinen Söhnen der Kampf um den Großfürstenthron von Kiew. Der eine seiner Söhne, Jaroslaw Wladimirowitsch, der Weise genannt, regierte in Nowgorod und zeichnete sich durch besonderen Verstand und Energie aus. Er besiegte seine Brüder und wurde Großfürst in Kiew.

Unter Jaroslaw dem Weisen erlebte der Kiewer Staat seine Blütezeit. Kiew wurde ein bedeutendes Handelszentrum und trat in lebhafte Beziehungen zu den westlichen Staaten. Jaroslaw verschwägerte sich mit mächtigen europäischen Herrschern. Er selbst heiratete die Tochter des schwedischen Königs, seine Töchter verheiratete er mit dem französischen, norwegischen und ungarischen König, die Söhne mit ausländischen Prinzessinnen. Der Kiewer Staat, der in den Rang eines der führenden Staaten Europas aufgerückt war, wurde reich und immer stärker. Kiew wurde mit herrlichen Palästen und schönen Kirchen bebaut. Hierher strömten zahlreiche Handwerker, Baumeister und Künstler.

Die Kiewer Fürsten waren bemüht, die Bedeutung ihrer Hauptstadt zu erhöhen und verschönerten Kiew auf jede Weise. Jaroslaw der Weise errichtete die Kathedrale der heiligen Sophia und eine Reihe anderer Kirchen und Klöster. Die Kiewer Kathedrale der heiligen Sophia überrascht durch ihre Großartigkeit und Herrlichkeit. Die Paläste und Kirchen, die die Kiewer Fürsten bauten, geben Zeugnis von den gesteigerten kulturellen Ansprüchen der russischen Menschen, die sich eine eigene Kultur schufen und die kulturellen Errungenschaften anderer Länder zunutze machten. Griechische Künstler und Architekten, die von den Fürsten eingeladen worden waren, mussten den Neigungen und Ansprüchen der Auftraggeber Rechnung tragen. Sie erbauten Kirchen mit zahlreichen Kuppeln, wie man sie weder in Byzanz noch in westlichen Ländern antreffen konnte.

Neben Kiew entwickelten sich auch andere Städte. Besonders reich wurde das Große Nowgorod. Auch neuer Städte entstanden; unter ihnen ragte Jaroslawl an der Wolga hervor. Nach dem Tode Jaroslaws des Weisen im Jahre 1054 wurde das weite Kiewer Reich unter seine Söhne aufgeteilt, die sich wegen der Beherrschung der reichsten Fürstentümer bekämpften. Die inneren Zwistigkeiten machten sich die neuen asiatischen Nomaden – die Polowzer – zunutze, die in den südlichen Steppen anstelle der von ihnen verdrängten Petschenegen erschienen waren. Die Überfälle der Polowzer verheerten das russische Land. Im Kampfe mit den Polowzern zeichnete sich einer der Enkel Jarolaws, Wladimir Wsewolodowitsch, genannt der Monomach (was „Einzelkämpfer“ bedeutet) aus. Seinen Beinamen erhielt er nach dem griechischen Kaiser Konstantin Monomachos, mit dem Wladimirs Mutter verwandt war.

Die Siege über die Polowzer brachten Wladimir Monomach großen Ruhm ein und erleichterten ihm die Beherrschung Kiews. Wladimir Monomach verstand es die Einheit des Kiewer Staates wiederherzustellen, und war bemüht, nach dem Beispiel seiner Vorfahren, mit den europäischen Staaten enge Beziehungen zu unterhalten.

Zu jener Zeit bürgerte sich in allen Staaten Westeuropas das Feudalsystem der Wirtschaft ein. Die Fürsten und Heerführer bemächtigten sich der im Gemeinbesitz befindlichen Ländereien, verteilten die Bauern unter sich und zwangen sie, auf ihren Besitzungen als Leibeigene zu arbeiten. Das Land, das die Fürsten ihren Kriegsmannen zuteilten, hieß französisch Féod (Lehn), und seinen Eigentümer nannte man Feudalherren (Lehnsherrn).

Der Übergang zum Feudalismus in Russland fiel in die Blütezeit des Kiewer Staates. Als Denkmal des Feudalsystems dieser Zeit erscheint die „Russische Prawda“. Dies war eine Sammlung von Gesetzen, nach denen Recht gesprochen wurde. In der „Russischen Prawda“ spiegelten sich die Gebräuche und Zustände wider, die sich in der russischen Feudalgesellschaft des 10. Und 11. Jahrhunderts herausgebildet hatten. Nach der „Russischen Prawda“ mussten für den Mord an einem Krieger, einem Gefolgsmann der Fürsten und Bojaren, 80 Griwny (Silberbarren) Strafe, für den Mord an einem Smerd jedoch 5 Griwny gezahlt werden. Auf diese Weise wurde das Leben eines Bauern formal 16mal geringer als das Leben eines fürstlichen Dieners einschätzt.

Die Kirche und die höhere Geistlichkeit begünstigten die Stärkung der Macht der Fürsten und Bojaren. Die Fürsten spendeten der Kirche und den Klöstern große Reichtümer und viele Ländereien. Die Bauern, die auf den Ländereinen der Kirchen und Klöster wohnten, verloren ihre Selbstständigkeit und wurden Leibeigene.

Gleichzeitig waren die Kirchen und Klöster zu jener Zeit fast die einzigen Heimstätten der Kunst des Lesens und Schreibens und der sonstigen Bildung. Bereits 100 Jahre vor Wladimir wurde das slawische Alphabet aufgestellt. Man fing an, das Evangelium und andere kirchliche Bücher aus dem Griechischen in die altslawische Sprache zu übersetzen. Man schrieb nicht auf Papier, sondern auf dünnes Leder. Die Abschreiber zeichneten die Buchstaben mit einem Gänsekiel oder einem Rohrstäbchen sorgfältig auf. Die Anfangsbuchstaben der Kapitel malten sie mit farbigen Mustern aus. An einem Buch arbeitete man viele Monate, mitunter auch Jahre.

Im Kiewer Rusj begann man auch, außer den übersetzten Büchern, eine eigene russische Literatur in der klaren und bilderreichen russischen Volkssprache zu schaffen. Durch den Umgang mit Griechen, Bulgaren und anderen Völkern wurde die russische Sprache mit neuen Wörtern bereichert.

In den Klöstern und auch bei einzelnen vornehmen und reichen Leuten entstanden große Büchereien. Eine ausgezeichnete Bibliothek besaß der Großfürst Jaroslaw der Weise. ER war ein großer Buchliebhaber und flößte seinen Kindern die Liebe zu Büchern ein. Auch Wladimir Monomach war ein sehr gebildeter Mensch. Er schrieb das interessante Werk: „Belehrung der Kinder“, in welchem er das Bild eines idealen russischen Fürsten zeichnete. Seinen Kindern hinterließ er das Vermächtnis, eifrig zu lernen: „Was Ihr Gutes könnt, das vergesst nicht, aber was Ihr nicht könnt, das lernt!“

Der Kiewer Staat dehnte sich immer mehr aus und wurde stark. Ackerbau und Handwerk gediehen, der Großgrundbesitz entwickelte sich, die wirtschaftliche Bedeutung der Städte verstärkte sich. Die ununterbrochene Entwicklung des Feudalismus nahm ihren Lauf. Das Kiewer Rusj schuf seine eigene Kultur und verstand es, von den anderen Völkern das Vorbildliche ihrer Kultur und Kunst zu entlehnen und in seine Stile umzugestalten. Persiche Gewebe, arabisches Silber, chinesische Stoffe, ägyptisches Geschirr, byzantinsicher Brokat, fränkische Schwerter wurden nicht nur weithin über Rusj verbreitet, sondern dienten auch als Muster, die die Entwicklung eines eigenen Kunststiles der russischen Menschen unterstützten.

In dem Maße, wie die örtlichen Grundbesitzer an Macht zunahmen und reich wurden, wuchs auch ihr Bestreben, sich von Kiew zu trennen. Die großen Städte des Kiewer Rusj verwandelten sich in Zentren örtlicher Fürstentümer. Jeder der Fürsten strebe danach, sich der Botmäßigkeit dem Kiewer Großfürsten zu entziehen. Zwischen den Fürsten fanden ununterbrochen Zusammenstöße und Kriege statt. Durch diese Kriege wurde das russische Land verheert und den äußeren Feinden die Möglichkeit zu Überfällen erleichtert. Die ärgsten Feinde waren die nomadisierenden Polowzer aus den asiatischen Steppen. Im 12. Jahrhundert wurde der weiträumige Kiewer Staat unter den Söhnen und Enkeln Wladimirs des Monomachen nach dem Erbgrundsatz aufgeteilt: „Jeder möge über sein väterliches Erbteil herrschen.“ Bald zerfiel der Kiewer Staat in eine Reihe unabhängiger Fürstentümer.

 

entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Original-Autorin Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“

Ein Kommentar zu „Der Kiewer Staat – ein machtvolles Reich der Ostslawen

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