Schlagwort Vaterländischer krieg des Jahres 1812
Der Einfall Napoleons in Russland. Die Zerschmetterung der napoleonischen Armeen
Im Jahre 1812 lag fast ganz Westeuropa zu Füßen des Eroberers Napoleon. Aber Napoleon wusste, dass er nicht der Beherrscher der Welt werden konnte, solange er Russland nicht zerschmettert hatte. Er begann eine große Vorbereitung für eine Invasion in Russland. Napoleon wollte Russland zerstückeln, die Ukraine von ihm losreißen und Russland in eine Kolonie Frankreichs verwandeln.
In der Nacht zum 12. Juni 1812 setzte die „Große Armee“ Napoleons über den Njemen und begann den Angriff gegen Russland.
Die napoleonische Armee wies damals eine Stärke von 600 000 Man auf. Den Hauptstreitkräften Napoleons stellte sich die 1. Russische Armee unter dem Befehl Barclay de Tollis entgegen. Sie hatte eine Frontstellung am Ufer des Njemen bezogen. Die 2. Armee, an deren Spitze Baration stand, befand sich im Süden Litauens, und zwar zwischen Njemen und Bug. In Reserve war noch die kleine 3. Armee des Generals Tormassow, die in Wolhynien und Podolien stand.
Napoleon hatte sich die Aufgabe gestellt, Russland mit einem schnellen Schlag zu erledigen. Er rechnete damit, schon in den ersten Tagen des Krieges so tief wie möglich sich zwischen die Armeen Barclays und Bagrations einzukeilen und sie einzeln zu schlagen. Die russische Führung nahm sie unter den damaligen Bedingungen einzig richtige Taktik an: sich zurückzuziehen, einer Entscheidungsschlacht auszuweichen und die beiden Armeen auf dem Vormarschweg Napoleons auf Moskau zu vereinigen. Marx hat darauf hingewiesen, dass der Rückzugsplan der russischen Armee keine Angelegenheit einer freien Wahl, sondern eine harte Notwendigkeit war.
Nach anderthalb Monaten gelang es endlich den Armeen Barclays und Bagrations, sich bei Smolensk zu vereinigen. Zur selben Zeit war Napoleon gegen Smolensk vorgerückt und begann es mit Kanonen zu beschießen. Barclay gab den Befehl die Pulvermagazine in die Luft zu sprengen und die in Flammen stehende Stadt zu verlassen. Gemeinsam mit den Truppen zogen die Einwohner von Smolensk ab, die ihre Häuser und sonstige Habe angezündet hatten, damit dem Feind nichts in die Hände fiel.
Die Ergebnisse der Taktik von Barclay zeigten sich sehr bald. Napoleons Armee, die noch keine einzige größere Schlacht geliefert hatte, erlitt große Verluste. Schon in den Gebieten Litauens und Bjelorusslands hatte der Krieg den Charakter eines Volkskrieges angenommen. Die litauischen und bjelorussischen Bauern weigerten sich, die französische Armee mit Lebens- und Futtermitteln zu beliefern, sie erschlugen französische Soldaten und Offiziere, stellten Abteilungen auf und fielen über die französischen Nachhuten her.
Weite Schichten der russischen Gesellschaft, die die Taktik Barclays nicht verstanden, waren äußerst unzufrieden mit dem Rückzug und verlangten einen Wechsel in der Kommandoführung. Ein Name nur im Munde aller: Kutusow.
Alexander I., der dem Verlangen der Armee und des Adels nachkam, ernannte ihn zum Oberbefehlshaber.
Kutusow kam am 17. August zur Armee, die sich nach Zarjowo Sajmischtsche zurückzog. Die Soldaten empfingen den neuen Befehlshaber mit Jubel. „Kutusow ist gekommen, um die Franzosen zu schlagen“ (Im Russischen ein Reim), sprachen sie untereinander. Kutusow setzte den Rückzug fort und begann eine energische Vorbereitung für die Schlacht.
Die Stellung für die Schlacht mit den Franzosen wurde in der Nähe des Dorfes Borodino gewählt. Die Gegend war hier hügelig und von Schluchten durchzogen. Im Zentrum der Stellung der russischen Armee befand sich das Dorf Borodino und am linken Flügel das Dorf Semjonowskoje. Die breite Ebene vor dem Dorf Semjonowskoje war für Bewegungen der Truppen günstig. Hier wurden eilig drei Erdbefestigungen mit kleinen Gräben und niederen Wällen angelegt.
Kutusow übernahm das allgemeine Kommando, die rechte Flanke übertrug er Barclay de Tolli und die linke Bagration. Das Zentrum verteidigte die Batterie unter dem Kommando des Generals Rajewskij.
Am Morgen des 26. August trafen sich die französische und die russische Armee auf dem Feld von Borodino. Napoleon näherte sich Borodino mit einer Armee von 135 000 Mann und einer Artillerie von 587 Geschützen. Die russischen regulären Truppen zählten bei Borodino 120 000 Mann.
Napoleon plante, den Hauptschlag gegen die linke Flanke der Russen zu führen. Ein Angriff der Franzosen folgte dem anderen, aber die russischen Truppen, angefeuert von Bagration, schlugen sie mit ungewöhnlicher Standhaftigkeit ab. Napoleon war gezwungen, auf diesem Abschnitt bis zu 400 Geschütze zu konzentrieren. Mehr als sechs Stunden dauerte die Schlacht. Von den Splittern einer Kanonenkugel wurde Bagration tödlich verwundet. General Dochturow übernahm das Kommando. Die russischen Truppen kämpften heldenmütig. Nur mit gewaltigen Anstrengungen gelang es den Franzosen, den linken Flügel der russischen Armee zu bedrängen. Danach befahl Napoleon, die Batterie Rajewskijs anzugreifen. In einem Erbitterten Ringen kamen fast alle ihre Verteidiger um.
Aber den Franzosen gelang es nicht, den Widerstand der russischen Armee zu brechen; Kutusow leitete geschickt die Schlacht. Im entscheidenden Moment dirigierte er gegen den Rücken des Feindes die Kosaken Platows, deren Angriff Napoleons Absichten vereitelte.
Die Schlacht von Borodino war außerordentlich erbittert. Die Verluste auf beiden Seiten waren sehr groß. Als Reserve verblieb Napoleon nur seine berühmte Garde, aber er lehnte es entschieden ab, sie in den Kampf zu schicken. „3000 Kilometer von Paris entfernt kann ich nicht meine letzte Reserve aufs Spiel setzen“, erklärte Napoleon. Am Abend gab er den Befehl, die Truppen vom Schlachtfeld zurückzuziehen.
Die Schlacht bei Borodino offenbarte den Heldenmut und die Kraft der russischen Armee.
In seiner Meldung an den Imperator Alexander I. über die Schlacht bei Borodino äußerte sich Kutusow mit großem Lob über die außerordentliche Tapferkeit und Kühnheit der russischen Soldaten: „Die Schlacht war eine allgemeine, die bis in die Nacht hinein andauerte. Die Verluste sich auf beiden Seiten groß; die feindlichen Verluste, nach den hartnäckigen Attacken auf unsere Stellung zu schließen, müssen unsere beträchtlich überschreiten. Die Truppen Eurer Kaiserlichen Majestät kämpften mit unglaublicher Tapferkeit, die Batterien gingen mehrmals aus einer Hand in die andere über. Es endigte damit, dass der Feind trotz seinen überlegenen Kräften nirgends einen Schritt Land gewann.“
Napoleon selbst gestand vor seinem Tod: „Von allen meinen Schlachten war die schrecklichste jene, die ich bei Moskau lieferte. Die Franzosen zeigten sich in dieser Schlacht würdig, den Sieg davonzutragen, die Russen aber erwarben sich den Ruf, unbesiegbar zu sein.“
Nach der Schlacht bei Borodino hatte jedoch die russische Armee immer noch nicht das Übergewicht der Kräfte und zog sich auf der Moskauer Landstraße langsam zurück. Niemand glaubte an die Möglichkeit einer kampflosen Übergabe Moskaus. Aber die Stellung bei Moskau war für eine neue Schlacht ungeeignet. Es war nötig, die Armee für den bevorstehenden Kampf zu erhalten und vorzubereiten. Kutusow entschloss sich, Moskau aufzugeben. Auf dem Kriegsrat im Dorf Fili sprach Kutusow zu seinen Generalen: „Solange die Armee noch besteht und sich in dem Zustand befindet, dem Gegner Widerstand zu leisten, solange werden wir die Hoffnung bewahren, den Krieg günstig zu beenden. Wenn aber die Armee vernichtet sein wird, werden Moskau und Russland untergehen.“
Kutusow nahm in vollem Umfang die Verantwortung für die Übergabe Moskaus auf sich. Als er allein war, konnte er sich nicht beherrschen und fing an zu weinen. „Aber nicht doch“, rief er im Zorn und schlug mit der Faust auf den Tisch, „sie werden Pferdefleisch fressen wie die Türken!“
Am frühen Morgen des 2. September 1812 marschierten die zurückziehenden russischen Truppen in einem ununterbrochenen Strom durch Moskau. Gemeinsam mit der Armee verließen die Einwohner die Stadt.
Als die französische Armee das stille und menschenleere Moskau betrat, flammte in vielen Stadtteilen Brände auf. Sie hielten sechs Tage an. Aus den Fenstern des Kremlpalastes schaute Napoleon auf das Flammenmeer. Der stolze Eroberer schauderte: „Was für ein Volk“rief er aus. „Sie selbst verbrennen alles. Das kündigt uns viel Unglück an.“
Niemand bekämpfte die Brände. Die Moskauer sagten beim Verlassen der Stadt: „Möge alles zugrunde gehen, wenn es nur dem Feind nicht in die Hände fällt!“
Die napoleonische Armee plünderte im brennenden Moskau alles, was vom Feuer verschont blieb. Unter den französischen Soldaten begann eine „epidemische Trunksucht“, die „Große Armee“ zersetzte sich. Auf alle Friedensvorschläge, mit denen sich Napoleon an Alexander I. wandte, bekam er keine Antwort. In Moskau zu überwintern, war sinnlos. Napoleon entschloss sich, Moskau zu verlassen.
Am 6. Oktober, um 7 Uhr morgens, begann Napoleon den Rückzug aus Moskau. Er wandte sich nach Kaluga, wo sich die Proviantlager der russischen Armee befanden. Aber noch vordem hatte Kutusow, der zum Schein auf der Rjasaner Landstraße aus Moskau abgerückt war, ein Umgehungsmanöver vorgenommen und erschien auf der Kalugaer Landstraße. Hier, bei Malojaroslawez, verlegte die russische Armee Napoleon den Weg. Es entwickelte sich ein hartnäckiger Kampf. Achtmal an einem Tag ging Malojaroslawez von einer Hand in die andere über. Napoleon, der sich nicht zu einer neuen Generalschlacht mit den Truppen Kutusows entschlißen konnte, befahl, auf die alte Smolensker Landstraße abzudrehen. Kutusow verfolgte unablässig den Feind im parallelen Marsch und brachte ihm ernste Flankenschläge bei. Im Rücken und auf den Wegen der zurückgehenden napoleonischen Armee operierten die russischen Partisanen.
Einer der Organisatoren der Partisanenabteilungen war der Dichter und Husar Denis Dawydow, ein begeisterter Anhänger und Verehrer von Suwurow. Später fasste er seine reichen Erfahrungen im Partisanenkampf in einem Buch unter dem Titel „Tagebuch der Partisanenaktionen im Jahre 1812“ zusammen. Dawydow prophezeite, dass der Partisanenkampf in den Befreiungskriegen des russischen Volkes eine große Rolle spielen würde.
Die Partisanen lauerten die französischen Trossen auf und fielen über sie her, oder sie beunruhigten die Nachhuten des Gegners mit ihren plötzlichen Überfällen. Sie nahmen einzelne Soldaten und auch ganze französische Abteilungen gefangen. Die Partisanen wurden eifrig von den Bauern unterstützt, die nicht selten selber Partisanenabteilungen aufstellten und mit außergewöhnlicher Tapferkeit kämpften. Diejenigen, die keine Gewehre hatten, gingen mit Beilen und Mistgabeln in den Kampf. Die Bauernfrauen nahmen neben den Männern am Partisanenkampf mit dem Feind teil. Kutusow unterstützte auf jede Art das Vorgehen der Bauern gegen die napoleonischen Armeen. „Welcher Feldherr würde nicht, wie ich, mit einem solchen tapferen Volk dem Feind eine Niederlage bereiten können? Ich bin glücklich, dass ich die Russen führe!“ schreib Kutusow, als er die gewaltige patriotische Erhebung des Volkes sah.
Die russischen Truppen verfolgten ununterbrochen den Feind, der dadurch große Verluste erlitt. Bei Krasnoje fand eine neue Schlacht statt, die Napoleon viele Tausende von Soldaten kostete. Es traten frühzeitige Fröste ein. Der Schnee bedeckte die Ebenen und die zerstörten oder verbrannten Dörfer, in denen die Franzosen weder Schutz vor der Kälte noch Nahrung fanden. Eine Massenfahnenflucht begann. Die Disziplin sank. Die Verbände der hungrigen französischen Soldaten verwandelten sich in Banden von Marodeuren.
Unablässig von Kutusow verfolgt, erreichte Napoleon endlich die Beresina. Der Übergang erfolgte unter einem Kugelhagel. Mit Napoleon überschritten etwas 60 000 Man die Beresina.
Aber auch diese Armee lichtete sich immer mehr. Ende Dezember blieben von der „Großen Armee“ kaum 30 000 Mann übrig.
Als der Feind endgültig vom russischen Gebiet verjagt war, las das gesamte Land mit freudigem und stolzem Gefühl Kutusows Aufruf an die Armee, in dem er den beispiellosen Heldentaten und der Tapferkeit der russischen Soldaten Anerkennung zollte: „Tapfere und siegreiche Truppen! Endlich seid ihr an den Grenzen des Reiches angelangt! Jeder von euch ist ein Retter des Vaterlandes, Russland begrüßt euch mit diesem Namen! Die ungestüme Verfolgung des Feindes und die außergewöhnlichen Mühen, die ihr in diesem schnellen Feldzug auf euch genommen habt, setzen alle Völker in Erstaunen und bringen uns unsterblichen Ruhm ein.“
Das russische Volk und seine heldenhafte Armee, geführt von dem großen Feldherren Kutusow, zerschmetterten die französischen Eroberer, die auf Russlands Unabhängigkeit einen Anschlag verübt hatten. Das russische Volk erblickte in Napoleon einen Eroberer und einen Unterjocher und begann gegen ihn einen allgemeinen Volkskampf. Darin lag der Hauptgrund des Unterganges der „Großen Armee“ Napoleons.
Der Krieg des Jahres 1812 war ein gerechter Krieg des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit. Er ging in die Geschichte Russlands unter der Bezeichnung „Vaterländischer Krieg“ ein.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel
Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
