Der Beginn der Arbeiterbewegung

Das Proletariat begann mit den ersten Schritten seiner Entwicklung den Kampf gegen die kapitalistischen Unterdrücker. Tausende von Arbeitern, die in einer Fabrik beschäftigt waren, konnten sich miteinander für den Kampf gegen den ausbeuterischen Fabrikanten verabreden. Sie forderten Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, Erhöhung des Arbeitslohnes, Verkürzung der Arbeitszeit. Wenn der Unternehmer es ablehnte, die Forderungen zu befrieden, so legten sie die Arbeit nieder, brachten die Maschinen zum Stehen. Eine solche Einstellung der Arbeit wurde „Statnutjsja“ (Streik) genannt (abgeleitet vom Wort „Staknustjsja“, d.h. sich verabreden). Als die Arbeiter die Forderungen vorbrachten, sagten sie oft: „Wenn man nicht nach unserem Willen tut, so werden wir nicht arbeiten, und damit basta!“  Daher wurden die Streiks auch „Sabastowki“ genannt.

In den ersten zehn Jahren nach der Reform des Jahres 1861 waren die Streiks nicht organisiert und trugen einen spontanen Charakter. Die Arbeiter traten fast ausschließlich mit ökonomischen Forderungen hervor. Viele glaubten noch, dass die Zarenmacht helfen würde, ihre gerechten Forderungen zu erfüllen. Andere brachten ihre schwere Lage mit der Einführung von neuen Maschinen in Zusammenhang, die die Arbeit der erfahrensten und geschicktesten Arbeiter entwertete.

Lenin schrieb über die ersten Aktionen des Proletariats: „Es gab eine Zeit, wo die Feindschaft der Arbeiter gegen das Kapital nur in einem dumpfen Gefühl des Hasses gegen ihre Ausbeuter, in dem undeutlichen Bewusstsein ihrer Unterdrückung und ihrer Knechtschaft und in dem Wunsch, sich an den Kapitalisten zu rächen, Ausdruck fand. Der Kampf äußerte sich damals in einzelnen Aufständen der Arbeiter, die die Gebäude zerstörten, die Maschinen zerbrachen, die Fabrikvorgesetzten verprügelten usw.“

Aber allmählich begann die Arbeiterbewegung, die in der Form von Aktionen gegen die einzelnen Kapitalisten begonnen hatte, den Charakter eines bewussten Kampfes der Arbeiterklasse gegen die gesamte Klasse der Kapitalisten anzunehmen. Aus den Reihen der Arbeiter traten immer mehr Revolutionäre hervor. Anfangs schlossen sich die revolutionären Arbeiter den Volkstümlern (Narodniki) an, die die revolutionäre Bewegung in Russland in den 1860-1870er Jahren, vor dem Auftreten der Marxisten, führten. Die Volkstümler behaupteten irrtümlich, dass der Kapitalismus in Russland eine fremde Erscheinung, dass der Keim der Grundlage des Sozialismus in der Bauerngemeinschaft, d.h. die bäuerliche Gesellschaft sei, die das gesamte zugeteilte Bauernland besitzt. Da die Bauern kein Privateigentum an dem Land besaßen, sondern nur zur Nutzung an den zugeteilten Parzellen des Grund und Bodens, der gesamten Gemeinschaft gehörte, erklärten die Volkstümler die Bauern als „geborene Sozialisten“.

Im Frühjahr des Jahres 1874 beschlossen viele von den Revolutionären, „ins Volk“, d.h. auf die Dörfer zu gehen, um unter den Bauern eine revolutionäre Agitation zu betreiben. Sie versuchten, die Bauern zum Kampf um Land und Freiheit, gegen die Gutsbesitzer und gegen den Zarismus aufzuwiegeln. Wegen dieses „Gehens ins Volk“ wurden sie eben „Volkstümler“ genannt. Der „Gang ins Volk“ erlitt einen völligen Zusammenbruch. Die Polizei, die Kulaken und die Popen (Geistlichen) fingen die Revolutionäre ab. Viele wurden zur Zwangsarbeit und Verbannung verurteilt. Daraufhin gab ein Teil der Volkstümler die Agitation unter den Bauern auf und begann, geheime Verschwörergruppen zu bilden, die sich das Ziel setzten, den Zaren und seine Helfer zu töten und auf diese Weise einen Umsturz in Russland herbeizuführen. Die Anhänger des Terrors schufen die Partei „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“), an deren Spitze Sheljabow und Sophia Perowskaja standen.

Am 1. März 1881 töteten die „Narodowolzen“ den Zaren Alexander II. Doch keinerlei Veränderungen zum Besseren ergaben sich hieraus. Den Platz Alexanders II. nahm sein Sohn Alexander III. ein. Die „Narodnaja Wolja“ wurde zerschlagen. Einige ihrer Führer wurden hingerichtet, die anderen eingekerkert. Die Reaktion im Lande verstärkte sich noch mehr.

Die fortschrittlichen Arbeiter, die sich anfangs den Volkstümlern angeschlossen hatten, begannen sie zu verlassen. Sie fingen an zu begreifen, dass nicht die Bauernschaft, sondern die Arbeiterklasse die führende Kraft der revolutionären Bewegung ist.

Unter den fortschrittlichen Arbeitern traten hervorragende Revolutionäre auf. Einer der ersten war der Weber Peter Alexjew. Ursprünglich ein Bauer aus der Smolensker Umgebung, lernte er als Autodidakt lesen und suchte eifrig in Büchern Antwort auf die ihn bewegenden Fragen über die Lage der Arbeiter und Bauern. Peter Alexejew betrieb eine revolutionäre Agitation unter den Arbeitern. Wegen revolutionärer Propaganda verhaftet, hielt er am 10. März 1877 vor Gericht eine bemerkenswerte Rede, die mit den Worten schloss: „Die Millionenmasse des Arbeitervolkes wird ihren muskulösen Arm erheben, und das von Bajonetten geschützte Joch der Despotie wird in Staub zerfallen.“

Lenin nannte diese Rede die große Prophezeiung des russischen Arbeiterrevolutionärs. Peter Alexejew wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit und zur Strafansiedlung in Jakutien verurteilt, wo er auch umkam.

Der revolutionäre Kampf der russischen Arbeiter begann zu jener Zeit, als in Westeuropa die von Marx und Engels geführte Arbeiterklasse bereits beim Aufbau ihrer Klassenorganisationen – der Gewerkschaften und Parteien – war. Zur Vereinigung der Arbeiter im Kampf gegen die Kapitalisten organisierten Marx und Engels im Jahre 1864 die Internationale Arbeiter-Assoziation-die Erste Internationale. Das Ziel der Internationalen Arbeiter-Assoziation war die Vereinigung der Arbeiter aller Länder zwecks Organisation des gemeinsamen Kampfes für die Vernichtung der Herrschaft der Kapitalisten und für die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die Sache der Arbeiterklasse selbst sein, schrieb Marx in den Statuten der Ersten Internationale. Unter der Leitung der Ersten Internationale. Unter der Leitung der Ersten Internationale organisierten die europäischen Arbeiter erfolgreich Streiks. Im Jahre 1871 stürzten sie Arbeiter von Paris die Macht der Bourgeoisie und riefen die Pariser Kommune aus. Die war die erste Regierung der Arbeiterklasse. Lenin nannte die Kommune das Urbild der Diktatur des Proletariats. Die Pariser Kommune existierte 72 Tage.

Die russischen Revolutionäre, die vor den Verfolgungen des Zarismus ins Ausland geflohen waren, schufen in der Ersten Internationale eine russische Sektion. Im März 1870 wandten sie sich an Marx mit der Bitte, die Vertretung Russlands im Generalrat der Internationale zu übernehmen. Marx nahm dieses Angebot an und schrieb ihnen in seiner Antwort, dass die Aufgabe der Vernichtung des Zarismus in Russland die notwendige Voraussetzung für die Befreiung nicht nur des russischen Volkes, sondern auch des europäischen Proletariats sei.

Die fortschrittlichen russischen Arbeiter waren, ebenso wie die westeuropäischen Arbeiter, bestrebt, ihre eigenen revolutionären Organisationen zu schaffen. Die erste revolutionäre Organisation in Russland war der „Südrussische Arbeiterbund“. Er war von Ewgenij Saslawskij im Jahre 1875 in Odessa gegründet worden und umfasste etwa 200 Metallarbeitet. Dieser Bund bestand ungefähr ein Jahr und wurde von der zaristischen Regierung zerschlagen, sein Organisator Saslawskij wurde zur Zwangsarbeit verurteilt und starb bald darauf im Gefängnis.

Einer der Leiter des „Südrussischen Arbeiterbundes“, Viktor Obnorskij, rettete sich vor der Verhaftung ins Ausland. Dort machte er sich mit der westeuropäischen Arbeiterbewegung bekannt. Nach Russland zurückgekehrt, gründete Viktor Obnorskij gemeinsam mit dem Tischler Stepan Chalturin im Jahre 1878 in Petersburg den „Nördlichen Bund russischer Arbeiter“, in dessen Programm es hieß, dass er sich nach seinen Aufgaben den sozialdemokratischen Parteien des Westens anschließe und sich zum Ziele setze, „die bestehende politische und wirtschaftliche Staatsform als eine äußerst ungerechte zu stürzen“. Bald zerschlug die Polizei auch den „Nördlichen Bund russischer Arbeiter“. Viktor Obnorskij wurde zur Zwangsarbeit verschickt, während Stepan Chalturin, der an dem Anschlag auf den Zaren Alexander II. teilgenommen hatte, am Galgen endete.

Die ersten Arbeiterorganisationen waren noch keine marxistischen, obgleich sie von der Volkstümlerrichtung abgerückt waren. Die fortschrittlichen Arbeiter fingen erst an, sich mit dem Marxismus bekannt zu machen.

 

 

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“

Die Ausbreitung des Marxismus in Russland

Im Jahre 1872 erschien in Russland der erste Band des großen Werkes von Marx „Das Kapital“. In diesem Werk entdeckte Marx die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft und begründete die Notwendigkeit des Kampfes des Proletariats für den Sozialismus. Die Lehre von Marx konnte nicht sofort große eine große Verbreitung unter den Arbeitern finden. Die Ideen von Marx muss in ihrem Bewusstsein erst beigebracht werden. Mit der Propaganda der Ideen des Marxismus in Russland begannen gebildete Marxisten mit Plechanow an der Spitze sich zu beschäftigen.

Georgij Walentinowitsch Plechanow 1856 bis 1918
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Unter den Gelehrten und Politikern des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts nimmt Georgij Waltentinowitsch Plechanow (1856 bis 1918) eine der ersten Stellen ein. Er liebte sein Vaterland und entschloss sich, sein Leben dem Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse von ihren Bedrückern und Ausbeutern zu widmen. „Ich bin in Russland geboren“, schrieb Plechanow im Jahre 1895, „und liebe glühend mein Land, obgleich die russischen Gendarmen und ihre Gesinnungsgenossen mich einen Verräter nennen. Meine Kräfte habe ich dem russischen Volk geweiht. Aber gerade deshalb, weil ich Russland und das russische Volk liebe, sehe ich klarer als jene, die dem Wohle unseres Landes gleichgültig gegenüberstehen, wie sehr die Interessen der russischen Regierung den Interessen des russischen Volkes entgegenstehen.“

Seit Jünglingsjahren hatte sich Plechanow den Volkstümlern angeschlossen, aber bereits im Jahre 1879 trat er aus der Organisation „Boden und Freiheit“ aus, da er nicht mit dem Übergang der Volkstümler zur Taktik des individuellen Terrors einverstanden war. Im Jahre 1880 fuhr Plechanow, der vom Zarismus verfolgt wurde, ins Ausland, wo er sich mit den Führern der Arbeiterbewegung bekannt machte und eine Verbindung mit Engels anknüpfte. Gleichzeitig studierte er eifrig die Werke von Marx und Engels. Einen besonders großen Eindruck machte auf ihn „Das Kommunistische Manifest“. „Ich war begeistert von dem ‚Manifest‘ und beschloss sofort, es in die russische Sprache zu übersetzen“, schrieb Plechanow.

Im Herbst 1883 schuf er die erste russische marxistische Organisation – die Gruppe „Befreiung der Arbeit“. Diese Gruppe leistete eine große Arbeit bei der Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus in Russland. Durch Mitglieder dieser Gruppe wurden viele Werke von Marx und Engels in die russische Sprache übersetzt und herausgegeben. In seinen Briefen an Engels vom 30. Oktober 1894 schreib Plechanow: „Die Propaganda Ihrer Ideen und der Ideen von Marx betrachte ich als Aufgabe meines Lebens.“

In seinen ersten marxistischen Arbeiten „Sozialismus und politischer Kampf“ und „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bewies Plechanow, dass zusammen mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland auch die revolutionäre Arbeiterklasse wächst und dass sie sich zum Entscheidungskampf gegen die Selbstherrschaft vorbereiten muss.

Nachdem sich Engels mit Plechanows Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bekannt gemacht hatte, schrieb er in einem seiner Briefe, er sei stolz darauf, dass unter der russischen Jugend eine Partei besteht, die sich aufrichtig und ohne Vorbehalte zu den großen ökonomischen und historischen Theorien von Marx bekennt.

Eine große Rolle in der Vorbereitung zur Schaffung einer marxistischen sozialdemokratischen Partei in Russland spielten zwei Programmentwürfe der russischen Sozialdemokraten, die von der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ausgearbeitet worden waren. In diesen Programmentwürfen jedoch, wie auch in einigen anderen Arbeiten Plechanows, waren schwerwiegende Fehler enthalten. Plechanow war der Meinung, dass die Bauernschaft kein Verbündeter des Proletariats im Kampf gegen sie Selbstherrschaft sein könne, er berücksichtigte nicht, dass nur im Bündnis mit der Bauernschaft die Arbeiterklasse den Sieg über den Zarismus erringen kann. Zur gleichen Zeit hielt er die liberale Bourgeoisie für eine ernsthafte revolutionäre Kraft. Diese Fehler führten dazu, dass in der Folgezeit Plechanow Menschewik wurde und gegen Lenin und die Bolschewiki kämpfte.

Anfang der 1880er Jahre, unter dem Einfluss der fortschrittlichen revolutionären Arbeiter, begann die Arbeiterklasse mutiger für die Verteidigung ihrer Interessen aufzutreten. In den zehn Jahren von 1870 bis 1880 fanden mehr als 200 Streiks statt. Ein besonders großer Streik wurde im Jahre 1878 in der neuen Baumwollspinnerei in Petersburg durchgeführt. An diesem Streik nahm der Arbeiter Peter Mojsejenko teil, der später eine hervorragende Rolle bei dem Streik in der Morosowfabrik in Orchechowo-Sujewo im Jahre 1885 spielte.

Der Streik in der Morosowfabrik zeigte die Geschlossenheit und die kameradschaftliche Solidarität der Arbeiter. Er hatte bereits seine Organisatoren und Leiter. Einer von ihnen war der Weber Peter Anissimowitsch Mojsejenko. Er eben erst aus der Verbannung zurückgekehrt, wohin er als Mitglied des „Nordbundes russischer Arbeiter“ wegen Teilnahme an den Petersburger Streiks verschickt worden war. Gemeinsam mit den ortsansässigen Arbeitern Luka Iwanow und Wassilij Wolkow arbeitete Peter Mojsejenko für die Arbeiter ein Programm ihrer Forderungen aus. Dieses Programm wurde auf geheimen Versammlungen der Arbeitervertreter durchgesprochen und den Fabrikanten vorgelegt. Der Streik dauerte acht Tage und zeichnete sich durch große Hartnäckigkeit aus. Er wurde gebrochen, nachdem die Polizei sämtliche Führer und 600 aktive Teilnehmer am Streik verhaftet hatte. Mojsejenko, Luka Iwanow, Wassilij Wolkow und andere Arbeiter wurden dem Gericht übergeben. Vor Gericht wurden derartig ungeheuerliche Zustände in der Morosowfabrik festgestellt, dass selbst die für dieses Gericht besonders ausgewählten Geschworenen gezwungen waren, die Unschuld der Streikführer anzuerkennen.

Der Streik bei Morosow war der größte von allen vorhergegangen. Er bedeutete den Beginn einer Massenbewegung der Arbeiter. Die Spontanität der Streiks fing an, durch ihre organisierte Durchführung ersetzt zu werden. In den Forderungen der Streikenden ertönten nun nicht mehr das jammernde Flehen und Bitten, sondern die machtvollen Forderungen der neuen revolutionären Klasse, die begonnen hatte, sich ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusst zu werden.

Der Streik bei Morosow erschreckte den Zaren Alexander III. und seine Minister. Im Jahre 1886 wurde ein Gesetz über die Geldstrafen und die Lohnbücher erlassen. Nach diesem Gesetz sollten die Strafgelder nicht den Fabrikanten zugutekommen, sondern für die Bedürfnisse der Arbeiter selbst verwendet werden. Der Streik hatte dem Zarismus gezeigt, dass die Arbeiterklasse eine drohende Macht werden kann. Im Streik bei Morosow trat das Proletariat zum ersten Mal als fortschrittliche Kraft der revolutionären Bewegung auf.

 

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“

Der Beginn der revolutionären Tätigkeit Lenins und Stalins

Nach der Niederlage der Pariser Kommune im Jahre 1871 fanden in Westeuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine großen revolutionären Aktionen statt. Die Erste Internationale (die Internationale Arbeiter-Assoziation) fiel faktisch auseinander. In den einzelnen kapitalistischen Ländern (Frankreich, Deutschland, England) wurden selbstständige Arbeiterparteien geschaffen. Im Jahre 1889 vereinigten sich die Vertreter der Arbeiterparteien und organisierten die Zweite Internationale. Jedoch nach dem Tod von Engels im Jahre 1895 verstärkten sich in den Parteien der Zweiten Internationale die Elemente, die Anhänger einer Verständigung mit der Bourgeoisie waren. Die Führer der Zweiten Internationale und die von ihnen geleiteten Parteien verzichteten auf den revolutionären Kampf: sie waren der Ansicht, dass die Arbeiter ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchsetzen können. Deshalb beharrten sie auf dem Weg der Reform, aber nicht der Revolution.

Vom Ende des 19. Jahrhunderts an verlagerte sich der Schwerpunkt des revolutionären Kampfes des Proletariats nach Russland. Die junge, aber sich schnell entwickelnde Arbeiterklasse Russlands begann den revolutionären Kampf gegen den Zarismus und gegen den Kapitalismus. Im Vergleich zu den Arbeitern in Westeuropa machte die russische Arbeiterklasse eine beschleunigte politische Erziehung durch. Unter den Verhältnissen des Zarismus verwandelten sich die Streiks schnell in Werkzeuge des politischen Kampfes des Proletariats, d.h. sie waren nicht nur gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die Selbstherrschaft gerichtet.

Den revolutionären Kampf des Proletariats leitete von Beginn der 1890er Jahre Wladimir Iljitsch Lenin.

Wladimir Iljitsch Lenin
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Der künftige Führer des russischen und des Weltproletariats wurde am 10. (22.) April 1870 in Simbirsk (später Uljanowsk) geboren. Lenins Vater, Ilja Nikolajewitsch Uljanow, war Pädagoge. Er hatte große Achtung vor Tschernyschewskij und Dobroljubow und liebte besonders die Gedichte von Nekarassow. Die Liebe und Achtung gegenüber den revolutionären Demokraten übertrug Ilja Nikolajewitsch auch auf seine Kinder.

Die Familie Uljanow war groß und hielt zusammen. Der Vater erzog die Kinder zu wahrheitsliebenden, rechtschaffenen und arbeitsamen Menschen.

Lenins älterer Bruder Alexander war Revolutionär – „Narodowolez“. Im Jahre 1887 nahm er an dem Anschlag auf den Zaren Alexander III. teil, wurde verhaftet und hingerichtet.

Lenin hatte damals begriffen, dass für den Sieg der Revolution der Kampf einzelner Revolutionäre ungenügend, dass die Entwicklung der Massenbewegung der Werktätigen notwendig ist. „Nein, wir werden diesen Weg nicht beschreiten, nicht auf diesem Weg muss man gehen“, sagte Lenin nach der Hinrichtung seines Bruders.

Wladimir Iljitsch zeichnete sich von Kindheit an durch hervorragende Fähigkeiten aus. Er beendete erfolgreich- mit der Goldenen Medaille – das Gymnasium in Simbirsk und bezog im Jahre 1887 die Universität Kasan. Hier nahm der junge Lenin an den Studentenunruhen teil, wofür er anfangs verhaftet, später aber von der Universität ausgeschlossen und in das Dorf Kokuschkino verbannt wurde. Bei der Verhaftung entspann sich zwischen Lenin und dem Polizeioffizier folgendes Gespräch: „Wozu rebellieren Sie, junger Mann? Sie stehen vor einer Mauer.“- „Vor einer Mauer, ja, aber vor einer baufälligen, man braucht nur hineinzustoßen, da fällt sie zusammen“, antwortete ihm Lenin.

Nach einem Jahr wurde Lenin gestattet, sich wieder in Kasan niederzulassen. Hier nahm er an der Arbeit eines revolutionären Zirkels aktiven Anteil. Alle freie Zeit verbrachte Lenin hinter Büchern. Seine große Arbeitsfähigkeit, seine Beharrlichkeit und Diszipliniertheit bei der Arbeit erwarb sich Lenin schon in seinen Kinder- und Jugendjahren.

Im Jahre 1889 siedelte Wladimir Iljitsch nach Samara (später die Stadt Kujbyschew) über, wo er länger als vier Jahre lebte. Das waren Jahre des beharrlichen Lernens. Lenin, der sich auf den revolutionären Kampf vorbereitete, studierte gründlich die Arbeiten der Begründer des Marxismus. „Das Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels übersetzte Lenin aus der deutschen in die russische Sprache, und es wurde dann in Lenins Übersetzung in den Zirkeln der Samarer revolutionären Jugend studiert. In Samara organisierte Lenin den ersten Marxistenzirkel, und dort bildete sich endgültig seine marxistisch-revolutionäre Weltanschauung. Auf der Grundlage eines sorgfältigen Studiums statistischen Materials schrieb Lenin seine erste wissenschaftliche Arbeit über die Bauernschaft in Russland. Aber Samara, wo es fast kein Proletariat gab, konnte keinen Spielraum für eine revolutionäre Betätigung bieten. Daher siedelte der 23jährige Lenin im Jahre 1893 nach der Hauptstadt Russlands, nach Petersburg, über, welches zugleich das größte proletarische Zentrum war.

Unter den Petersburger Marxisten nahm Lenin sofort eine führende Stellung ein. „Wir haben ihn einstimmig, widerspruchslos und stillschweigend als unseren Führer anerkannt“, so erzählt einer der Petersburger Marxisten. Durch sein gewaltiges Wissen zeichnete sich Lenin im Kreise aller jungen Marxisten aus. Aber besonders gewann er sich die Hörer des Zirkels durch eine tiefe Überzeugung und den glühenden Glauben an den Sieg der Arbeiterklasse. „Wir sahen, wir fühlten stets eine ungewöhnliche Kraft der Überzeugungen, einen tiefen Ideenreichtum in Ihm“. Erinnerte sich einer der Teilnehmer seines Zirkels. Wir sahen, dass er in allen seinen Überlegungen, was immer sie auch betrafen, nur von einem Gedanken ausging, von dem Gedanken des Kampfes der russischen Arbeiterklasse für die Revolution, für den Sozialismus; und dieser Idee gab er sich ganz hin, für Ihn gab es keine anderen Interessen außer jenen, die damit verbunden waren, kein anderes Leben außer jenem, das er völlig dieser Idee gewidmet hatte.“

Lenin trat entschlossen gegen die liberalen Volkstümmler auf, deren Ideen zu jener Zeit weit verbreitet waren. Er schrieb damals sein erstes großes theoretisches Werk: „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in dem er die Anschauungen der Volkstümler einer vernichtenden Kritik unterzog. In dieser Broschüre sagte Lenin voraus, dass sich gerade das Proletariat an die Spitze des Kampfes um den Sturz der Selbstherrschaft, um die Liquidierung der Leibeigenschaft in Russland und um den Sieg der sozialistischen Revolution stellen wird.

Im Herbst 1893 stellte Lenin eine enge Verbindung mit den fortschrittlichen Petersburger Arbeitern her. Die Arbeiterbewegung tat zu jener Zeit einen neuen Schritt vorwärts.

Der industrielle Aufschwung der 1890er Jahre führte ein zahlenmäßiges Anwachsen der Großunternehmungen und der Arbeiterschaft herbei. Die Streikbewegung ergriff breitere Schichten der Arbeiter. Von 1895 bis 1899 streikten nicht weniger als 221 000 Arbeiter.

Zu jener Periode entstand in Petersburg unter Lenins Führung die revolutionäre Arbeiterorganisation unter der Bezeichnung „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Dieser „Kampfbund“ stellte, wie Lenin bemerkte, den ersten bedeutsamen Keim einer revolutionären Partei, die sich auf die Arbeiterbewegung stützt, dar.

Ende 1894 warf Lenin die Frage auf, dass es notwendig sei, von der Arbeit in den Zirkeln (von der Propaganda) zu einer umfassenderen Tätigkeit unter den Arbeitern (zur Agitation) überzugehen. Ungeachtet des Widerstandes eines Teiles der Intelligenzler wurde Lenins Vorschlag gutgeheißen.

Der „Kampfbund“ begann im Zusammenhang mit den Streiks in den einzelnen Betrieben Agitationsflugblätter herauszugeben.

Im Frühjahr 1895 führ Lenin ins Ausland, wo er mit Plechanow zusammentraf. Nach seiner Rückkehr nach Russland stellte die Polizei ihn und andere Mitglieder des „Kampfbundes“ unter verschärfte Beobachtung. In der Nacht vom 8. Zum 9. Dezember 1895 wurden bei vielen Mitgliedern des „Kampfbundes“ Haussuchungen durchgeführt, einige wurden verhaftet, darunter Lenin. Aber selbst aus dem Gefängnis setzte er die Leitung des „Kampfbundes“ fort. Von Ende 1895 an organisierte der „Kampfbund“ Streiks und leitete sie. Im Jahre 1896 wurde unter der Leitung des „Kampfbundes“ ein Streik organisiert, der 30 000 Petersburger Weber erfasste. Während des Streiks gab er „Kampfbund“ 13 Flugblätter heraus. Im Gefängnis schrieb Lenin eine Broschüre über die Streiks. Unter dem Einfluss der revolutionären Marxisten lernten die Arbeiter die politische Lage und die Aufgaben der Arbeiterklasse begreifen und den Kampf für ihre Interessen führen. Im Jahre 1897 wurde Lenin für drei Jahre nach dem Dorf Schuschenskoje im Gouvernement Jenissejsk verbannt. Im Gefängnis und in der Verbannung arbeitete er an dem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. In ihm zeigte er, dass Russland auf dem kapitalistischen Weg fortschreitet und dass der Kapitalismus eine neue revolutionäre Macht – das Proletariat- erzeuge.

In dem von ihm verfassten Programmentwurf der Partei begründete er die Notwendigkeit des Kampfes der russischen Arbeiter für den demokratischen Aufbau des gesamten Lebens in Russland, der ihnen einen weiteren Kampf für den Sozialismus erleichtern würde. Diese Vereinigung demokratischer und sozialistischer Aufgaben im Programm der Arbeiterpartei fand ihren Widerhall auch in der Bezeichnung: „Sozialdemokratische Partei“. Der Versuch eine Partei zu gründen, war schon unternommen worden, als Lenin sich noch in der Verbannung befand. Im Jahre 1898 fand in Minsk die erste Tagung der Sozialdemokraten statt. Auf dieser Tagung wurde die Bildung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verkündet. Aber nach der Tagung wurden die Mitglieder des Zentralkomitees und die Mehrzahl der Teilnehmer am Parteitag verhaftet.

Jedoch konnten keinerlei Verfolgungen die sich schnell entwickelnde revolutionäre Bewegung in Russland aufhalten.

Lenin wies darauf hin, dass der Kapitalismus in Russland sich nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Breite entwickele. Dies bedeutete seine Verbreitung in neue Gebiete. Nach der Reform von 1861 wurde auch Transkaukasien in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung mit hineingezogen. Dort entstanden die ersten Fabriken und Werke. Die Erdölstadt Baku, ein großes Industrie- und Arbeiterzentrum Transkaukasiens, fing an, sich schnell zu entwickeln. Eine wichtige ökonomische Bedeutung für den gesamten Kaukasus hatte der Bau der transkaukasischen Eisenbahn. Im Jahre 1871 wurde der Eisenbahnverkehr zwischen Poti und Tiflis eröffnet.

In Transkaukasien begann sich eine eigene Arbeiterklasse zu bilden. Eine große Rolle in der revolutionären Bewegung spielten die Eisenbahner. Vom Jahre 1887 an begannen die Arbeiter der Tifliser Eisenbahnwerkstätten als Anführer des Kampfes aufzutreten. Unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung fingen auch die georgischen Bauern an, sich zum Kampf zu erheben. Der Führer und Leiter der Arbeiter und Bauern in Georgien und im gesamten Transkaukasien war von Ende der 1890er Jahre an J.W. Stalin.

Josef Wissarionowitsch Stalin
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Josef Wissarionnowitsch Stalin (Dshugaschwili) wurde am 9.(21.) Dezember 1879 in der Stadt Gori geboren. Sein Vater war Arbeiter in der Schuhfabrik in Tiflis, seine Mutter arbeitete als Tagelöhnerin.

Im Jahre 1894 absolvierte J.W. Stalin die geistliche Schule in Gori und trat in das geistliche Seminar in Tiflis ein. In dem Seminar verfolgten und erstickten viele Erzieher und Lehrer alles Lebendige. Stalin schrieb später darüber: „Ihre Hauptmethode ist die Bespitzelung, das Sicheinschleichen in die Seele, Verhöhnung. Was kann daran Positives sein? Zum Beispiel Spitzelei im Pensionat: um neun Uhr das Glockenzeichen zum Tee, wir gehen ins Esszimmer, und als wir dann wieder in unsere Zimmer kommen, stellt sich heraus, dass man während dieser Zeit eine Haussuchung vorgenommen und alle unsere Kästen mit den Sachen durchwühlt hat… Aus Protest gegen dieses System der Verhöhnung und die jesuitischen Methoden, die im Seminar herrschten, war ich bereit, Revolutionär zu werden und wurde tatsächlich Revolutionär, Anhänger des Marxismus als einer wirklich revolutionären Lehre.“

Vom 15. Lebensjahr an betätigte sich J.W. Stalin revolutionär, nachdem er sich mit der illegalen Gruppe der russischen Marxisten in Tiflis verbunden hatte. Im Seminar arbeitete er viel an seiner marxistischen Schulung. Bald begann J.W. Stalin selbst illegale marxistische Zirkel zu leiten, in denen die Werke von Marx und Engels, von Belinskij und Tschernyschewskij, von Pissarew und Plechanow studiert wurden. Einst wurde mit großer Mühe der erste Band des „Kapitals“ erworben, mit der Hand abgeschrieben und an Hand der handschriftlichen Kopie im Zirkel studiert.

Im Jahre 1898 machte sich Stalin mit Lenins Werken bekannt. Schon damals entstand in ihm der heiße Wunsch, mit dem Führer der russischen Arbeiterklasse persönlich bekannt zu werden. „Ich muss ihn sehen“, sagte er zu seinen Genossen.

Im Jahre 1899 wurde J.W. Stalin aus dem geistlichen Seminar wegen marxistischer Propaganda ausgeschlossen. Von dieser Zeit an wurde er Berufsrevolutionär und widmete alle seine Kräfte dem Kampf für die Sache der Arbeiterklasse.

Die Entwicklung des Kapitalismus und das Anwachsen der Arbeiterklasse in Georgien führte zur Entstehung der ersten marxistischen georgischen Organisationen. Den Marxismus in Transkaukasien begannen als erste die russischen Sozialdemokraten, die von der zaristischen Regierung dahin verschickt worden waren, zu verbreiten. Im Jahre 1893 war in Georgien die erste marxistischen Organisation „Messame-Dassi“ (die 3. Gruppe) entstanden. Ihr gehörten sowohl Anhänger eines entschlossenen Kampfes gegen den Zarismus als auch Gegner eines solchen offenen Kampfes der Arbeiterklasse an. Im Jahre 1898 schloss sich die revolutionäre Minderheit dieser Gruppe unter der Führung von Alexander Zulukidse, Lado Kezchoweli und Josef Stalin zusammen, welche von der engen Propaganda innerhalb der Zirkel zur Massenagitation und zum politischen Kampf gegen die Selbstherrschaft überging. Die Organisation spaltete sich. Die revolutionäre Minderheit, geführt von J.W. Stalin, bildete eine neue marxistische Gruppe, die die Keimzelle der revolutionären sozialdemokratischen (der künftigen bolschewistischen) Organisation in Transkaukasien war.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Das Anwachsen des Kapitalismus in Russland nach der Reform des Jahres 1861

Das zaristische Russland beschritt später als die Länder Westeuropas den Weg der kapitalistischen Entwicklung. Zu jener Zeit, als im Westen – in England, Frankreich und Deutschland – die Maschinengroßindustrie schnell anwuchs und mit ihr zusammen auch das Proletariat, herrschte in Russland noch die wenig produktive, unfreiwillige Leibeigenenarbeit. Nach der Reform des Jahres 1861 begann sich der Kapitalismus in der Industrie und der Landwirtschaft schneller zu entwickeln.

In den ersten Jahrzehnten nach der Reform wurden vor allem im Eisenbahnbau Kapitalien investiert. Von 1861 bis 1881 wurden mehr als 19 000 Kilometer Eisenbahnen gebaut. Für den Eisenbahnbau waren Stahl- und Eisenerzeugnisse notwendig. Dies bewirkte eine Belebung der metallurgischen und eisenverarbeitenden Industrie.

Im Jahre 1871 wurde der erste Hochoffen in der Ukraine in Jusoka (später Stalino) angeblasen.

(Die Stadt wurde 1924 zu Ehren Stalins in Stalino umbenannt. Nach dem Tod Stalins und als Stalin verdammt wurde, hatte man im Jahre 1961 die Stadt in Donezk umbenannt. Diese Stadt liegt im Donbas. Von 2014 bis 2022 war Donezk die Hauptstadt der Volksrepublik Donezk, die mit Russland verbündet war. Seit 2022  gehört die Volksrepublik Donezk zur Russischen Föderation, wobei Donezk weiterhin ihre Hauptstadt ist. Die Ukraine beansprucht dieses Gebiet für sich.  Siehe Wikipedia und den KI-Text P.R.) Für KI-Text Stalino im Browser eingeben.

Die im Süden gelegenen Werke begannen Schienen und andere Gegenstände für den Eisenbahnbau herzustellen, die früher aus dem Ausland eingeführt wurden. Die Förderung von Steinkohle in der Ukraine erhöhte sich in der gleichen Zeit um das 15fache.

Im Süden Russlands entstand ein neuer Industriebezirk: das Donez-Steinkohlebecken (Donbass).

Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.

Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.

Die Abschaffung der Leibeigenschaft begünstigte das Eindringen des Kapitalismus auch auf dem Land. Die Gutswirtschaften verwandelten sich allmählich in kapitalistischen Wirtschaften. Ein Teil der Gutsbesitzer konnte sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen und wurde ruiniert. Ihr Land kauften die Kulaken (die reichen Bauern) auf. Im Dorf nahm die Klassenschichtung zu. Es sonderte sich der kleine Teil der reichen Bauern, der Kulaken aus; die Mehrzahl der Bauern setzte sich aus armen Kleinbauern und Mittelbauern zusammen.

Die Gutsbesitzer verpachteten das Land in großen Flächen an die Kulaken für einige Jahre, die Kulaken ihrerseits verpachteten es an die mittellosen Bauern gewöhnlich auf ein Jahr. Der Mangel an Land bei der übergroßen Masse der Bauern zwang sie, Land zu pachten oder sich als Knechte den Kulaken und Gutsbesitzern zu verdingen. Für die Pacht mussten die Bauern mit ihrem eigenen Inventar das Land des Gutsbesitzers oder des Kulaken bearbeiten. Es waren dies die alten leibeigenen Frondienste in der neuen Form der Abarbeit. Eine andere Form dieses Frondienstes war die Halbpacht, bei der die Bauern für das gepachtete Land die Hälfte ihres Ernteertrages in natura abgeben mussten. Das Ergebnis war, dass die Bauern ruiniert wurden und viele als Knechte sich verdingten oder in die Stadt nach Arbeit gingen. Die Überbleibsel der Leibeigenschaft hinderten die Entwicklung des Kapitalismus. Dies hatte zur Folge, dass Russland hinter den anderen kapitalistischen Ländern zurückblieb.

Nichtsdestoweniger entwickelte sich der Kapitalismus in Russland unaufhaltsam weiter. Lenin schrieb, indem er das Fazit aus den Erfolgen des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts zog: „Das Russland des Hakenpfluges und des Dreschflegels, der Wassermühle und des Handwebstuhles begann sich schnell in das Russland des Pfluges und der Dreschmaschine, der Dampfmühle und des Dampfwebstuhles zu verwandeln.“

Mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland war, wie auch in anderen Ländern, das Aufkommen der Arbeiterklasse und das Entstehen einer Arbeiterbewegung verbunden. Als Ergebnis der Reform des Jahres 1861 wurden 10 Millionen Bauern von der leibeigenen Abhängigkeit befreit. Viele von ihnen gingen, da sie nicht mit Land versorgt waren, in die Fabriken und Werke, zu den Eisenbahnarbeiten, zu verschiedenen Bauunternehmen, sowie als Knechte zu den Kulaken und Gutsbesitzern. Innerhalb von 20 Jahren (1861 bis 1881) verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter in Russland und stieg auf 668 000. Die neuen Unternehmungen zeichneten sich durch große Ausmaße aus. Ende des 19. Jahrhunderts waren auf den Unternehmungen mit mehr als je 1000 Arbeitern mehr als ein Drittel sämtlicher Arbeiter Russlands beschäftigt. Die gemeinsame Arbeit in großen Unternehmungen begünstigte den Zusammenschluss der Arbeiterschaft, und der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeuter entwickelte in ihnen kämpferische, revolutionäre Eigenschaften. Auf diese Weise formte sich eine neue Gesellschaftsklasse: das Proletariat, das sich von Grund aus von den leibeigenen Arbeitern und kleinen Handwerkern unterschied.

Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter waren äußerst schwer. Der Arbeitstag war nicht gesetzlich geregelt. Nicht selten erreichte er 15 bis 16 Stunden. Der Arbeitslohn war erbärmlich. Besonders niedrig wurde die Frauenarbeit bezahlt. Für eine der Männerarbeit gleichwertige Arbeit erhielt die Frau einen geringeren Arbeitslohn. Die Arbeit der Jugendlichen und Kinder wurde noch schlechter bezahlt. Die Arbeit der Jugendlichen z.B. in der Krenholmer Textilmanufaktur dauerte von früh vier Uhr bist acht Uhr abends. Bei einer 16stündigen Tagesarbeit erhielten sie 4 Rubel im Monat. Aber ausgezahlt bekamen sie nur 8 Kopeken. Der Eigentümer der Fabrik behielt für Unterhalt der Jugendlichen 6 Rubel und 50 Kopeken im Monat ein. Auf diese Weise blieb der jugendliche Arbeiter dem Fabrikanten, nachdem er einen Monat gearbeitet hatte, noch 2 Rubel 58 Kopeken schuldig. Diese Schuld musste er abarbeiten, sobald er ein selbstständiger Arbeiter geworden war.

Die Fabrikanten bestraften die Arbeiter erbarmungslos. Die Strafen wurden völlig willkürlich auferlegt. Oft betrogen die Fabrikanten die Arbeiter bei der Auszahlung des Arbeitslohnes, gaben ihnen an Stelle von Geld minderwertige Produkte aus dem Fabrikladen und berechneten sie zwei- bis dreimal teurer, als diese auf dem Markt kosteten. Außerordentlich schlecht waren die Wohnverhältnisse. In jeder der kleinen Kammern der Arbeiterkasernen waren mehrere Familien untergebracht.

Über die unerträgliche Lage der Arbeiter gibt die Semstwo-Sanitätskommission, die zu Beginn der 1880er Jahre in Ursachen der Arbeiterunruhen in der Chludowmanufaktur (an der Station Jarzewo der Moskau-Brester Eisenbahnlinie gelegen) untersuchte, in ihrem Bericht Zeugnis:

„Die Millionenfabrik (Chludows), eine Brutstätte jedweder Seuche, erscheint zur gleichen Zeit als das Muster der erbarmungslosen Ausbeutung der Volksarbeit durch das Kapital. Die Arbeit in der Fabrik findet unter äußerst ungünstigen Bedingungen statt: Die Arbeiter müssen den Baumwollstaub einatmen, sind der Einwirkung der erdrückenden Hitze bis 28,2 O R. ausgesetzt und haben auch noch den erstickenden Geruch zu ertragen, der aus den schlecht angelegten Retiraden sich verbreitet. Die Fabrikleitung erklärte, dass sie keine Verbesserung dieser Retiraden aus dem Grunde vornimmt, weil im entgegengesetzten Falle, bei der Abstellung der üblen Ausdünstungen, diese Orte sich in Erholungsorte für die Arbeiter verwandelt würden, und man diese dann von dort mit Gewalt herausjagen müsste. Wie müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in dieser Fabrik gewesen sein, wenn sogar die Retiraden zu Erholungsorten werden konnten!

Tag und Nacht wird gearbeitet. Jeder muss zwei Schichten am Tag arbeiten, alle sechs Stunden wird Pause gemacht, so dass der Arbeiter niemals ganz ausschlafen kann. Die Arbeiter werden in der Nähe der Fabrik in einem großen feuchten Gebäude in der dritten Etage untergebracht, das, gleich einer gewaltigen Menagerie, in Käfige und Kammern eingeteilt ist, die schmutzig und stinkig, von dem Geruch der Aborte (altes Wort für Toilette P.R.) geschwängert sind. In diese Kammern sind die Bewohner hineingepfropft, wie Heringe in der Tonne.“

Die Arbeiter in der Fabrik Chludows wurden auf ein Jahr gedungen. In ihren Arbeitsbüchern war angegeben, dass sie nicht das Recht hatten, die Fabrik vor Ablauf eines Jahres zu verlassen. Die Fabrikverwaltung aber konnte den Arbeiter zu jeder beliebigen Zeit auf die Straße setzen. Den Lohn erhielten die Arbeiter nicht in Gestalt von Geld, sondern in Gestalt von Lebensmitteln und Kleidung aus dem Laden des Arbeitgebers.

Einer besonders grausamen Ausbeutung waren in dieser Fabrik die Kinder und Jugendlichen, die fast die Hälfte der gesamten Belegschaft ausmachten, ausgesetzt. Laut Zeugnis des Semstwoarztes waren die Kinder so überanstrengt, dass sie bei einer als Folge einer Körperversetzung etwa notwendig machenden Operation ohne jede Narkose einschliefen.

Strafen und Abzüge jeglicher Art verringerten den Arbeitslohn um einen beträchtlichen Teil.

Die Lage der Arbeiter in der Fabrik Chludows war kein Ausnahmefall.

Eine fürchterliche Ausbeutung der Arbeiter in den Fabriken und Werken des zaristischen Russlands war eine übliche und überall anzutreffende Erscheinung. Sie verschaffte den Fabrikanten und Werkbesitzern gewaltige Profite, die Arbeiter überanstrengte sie, machte sie zu Invaliden und führte zu vorzeitigem Tod. In Russland, wie auch überall, wuchs der Kapitalismus auf den Knochen und dem Blut der Arbeiter.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“

Russland – ein Nationalitätenreich. Der nationale Befreiungskampf der Völker Russlands

Die Umwandlung Russlands in ein viele Nationalitäten umfassendes Reich

Der im Verlauf des 15. Und 16. Jahrhunderts geschaffene zentralisierte Russische Staat verwandelte sich seinem Bestand nach mehr und mehr in einen Nationalitätenstaat.

Die Eroberung des Kasaner und des Astrachner Khanats, dieser Bruchstücke der Goldenen Horde, führte am Ende des 16. Jahrhunderts dazu, dass die Tataren und Völker des Wolga- und Uralgebietes – die Udmurten, Marijer, Tschuwaschen, die Mordwinen und Baschkiren – in den Bestand des Russischen Staates einbezogen wurden.

Im 16. Und 17. Jahrhundert gliederte der Russische Staat seinen Besitz zuerst das Westliche, aber später auch das gesamte Östliche Sibirien an. Dieses ausgedehnte Territorium bewohnten verschiedene sibirische Stämme: die Manjsi, die Chanten, Ewenken, Chakassen, Jakuten, Burjat-Mongolen und andere. Im Norden und Nordosten namadisierten die Nenzen, die Tschuktschen, die Korjaken und andere Völkerschaften mit ihren Rentierherden.

Im 18. Und zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sich auch die westlichen Grenzen des Russischen Reiches heraus. Laut Beschluss des Wiener Kongresses im Jahre 1815, der nach dem Fall des napoleonischen Imperiums Europa umgestaltete, wurde unter der Bezeichnung „Polnisches Reich“ der größere Teil der polnischen Gebiete Russland angegliedert. Der russische Imperator wurde zum erblichen König von Polen erklärt. Die unmittelbare Verwaltung Polens wurde dem vom Imperator ernannten Statthalter übertragen.

Die Litauen und Bjelorussland benachbarten baltischen Gouvernements (Livland und Estland) wurden schon zur Zeit des Nordischen Krieges Russland angegliedert. Das Gouvernement Kurland fiel nach der neuen Teilung Polens im Jahre 1795 an Russland. Die baltischen Gouvernements wurden von russischen Gouverneuren verwaltet. Die wirtschaftliche Herrschaft im Baltikum jedoch gehörte den Großgrundbesitzern, den deutschen Baronen, die der russische Zarismus unterstützte.

Die Vereinigung der Ukraine mit Russland war schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts im Einklang mit dem Willen des ukrainischen Volkes erfolgt, der westliche oder rechts des Dnjepr gelegene Teil der Ukraine jedoch unter der Herrschaft Polens geblieben. Nach der Teilung Polens im Jahre 1793 waren sämtliche bjelorussischen und fast alle Ukrainischen Gebiete dem Russischen Reich einverleibt worden.

Als Ergebnis der Eroberung Finnlands im Jahre 1809 wurde das Großfürstentum Finnland geschaffen. Alexander I. fügte seinen früheren Titeln Allrussischer Imperator und König von Polen auch noch den eines Großfürsten von Finnland hinzu.

Ungefähr zu der gleichen Zeit dehnten sich die Grenzen Russlands im Süden aus. Die internationalen und inneren Verhältnisse Georgiens brachten es in eine solche Lage, dass es entweder zwischen Persien und der Türkei aufgeteilt oder unter die Herrschaft Russlands geraten musste. Schon im Jahre 1555 war der westliche Teil Georgiens (Imeretien) an die Türkei gefallen, der östliche Teil aber (Kartlien und Kachetien) an Persien. Den Schlägen von zwei stärkeren Nachbarn ausgesetzt, konnte das feudale zersplitterte Georgien nicht dem Andrängen der Gegner standhalten und sich seine Unabhängigkeit bewahren. Die Angriffe der Türken und Perser drohten Georgien nicht nur mit dem Verlust seiner Unabhängigkeit, sondern auch mit der physischen Vernichtung der Bevölkerung.

Die georgischen Feudalherren halfen mit ihren inneren Fehden den Türken und Persern das georgische Volk auszuplündern und vernichten.

Die fortschrittlichen Männer Georgiens sahen die einzige Rettung des Volkes in der Angliederung an Russland, dessen Macht immer größer wurde. Obgleich auch die Angliederung Georgiens an Russland den Verlust der Unabhängigkeit bedeutete, rettete es das georgische Volk und seine Kultur vor der Vernichtung.

Nach schweren, von den persischen Eroberern verursachten Nöten sandte die georgische Regierung nach Petersburg eine Gesandtschaft mit „Bittpunkten“, betreffend die Angliederung Georgiens an Russland. Die zaristische Regierung erließ im September 1801 ein Manifest über die Angliederung Georgiens.

Nach der Angliederung Georgiens an Russland wurde auch das übrige Transkaukasien einverleibt.

Ab Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts begann die zaristische Regierung die Bergvölker des Nordkaukasus zu bezwingen. Unter der Leitung des tapferen Heerführers Schamil eröffneten die Bergvölker den Kampf um ihre Unabhängigkeit. Schamil hatte sich die Aufgabe gestellt, die zersplitterten und rückständigen Bergvölker in einem selbstständigen Staat zu vereinigen. Er stellte eine Armee zusammen und führte eine Reihe von Reformen durch, die fortschrittlichen Charakter trugen. Der Kampf der Bergvölker um ihre Unabhängigkeit dauerte länger als 25 Jahre (1834 bis 1859), wurde aber von der zaristischen Regierung unterdrückt.

Die südöstlichen Grenzen des Russischen Reiches erreichten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Persien, Afghanistan und China. Russland verwandelte sich in ein gewaltiges, viele Nationalitäten umfassendes Imperium, das in seinem Bestand Dutzende von großen und kleinen Völkerschaften aufgenommen hatte. Vor dem ersten Weltkrieg zählte es ungefähr 170 Millionen Einwohner, unter denen die Großrussen den entwickeltsten Teil der Bevölkerung darstellten. Etwa 100 Millionen waren nicht Großrussen. Davon hatten ungefähr 30 Millionen, hauptsächlich türkische Bevölkerung, die Etappe der kapitalistischen Entwicklung noch nicht durchschritten, besaßen kaum ein eigenes Industrieproletariat und führten größtenteils ein Nomadenleben als Viehzüchter. In wirtschaftlicher und kultureller Beziehung am entwickelsten waren die Völker, die den westlichen Teil des Russischen Reiches bewohnten und früher als die anderen in das kapitalistische Wirtschaftssystem einbezogen worden waren. Bei diesen Völkern hatte sich bereits eine nationale Bourgeoisie und ein nationales Proletariat gebildet. Daher war im 19. Jahrhundert der Kampf um die nationale Unabhängigkeit vor allem in dieses Gebieten entbrannt.

Der Zarismus – der gemeinsame Feind der Völker Russlands

Die eroberten oder auf andere Weise dem Russischen Reich angeschlossenen Territorien verwandelte die zaristische Regierung in Kolonien. Die besten Ländereien zusammen mit den darauf ansässigen Bauern wurden an die Gutsbesitzer verteilt, die die örtlichen Bauern bedrückten und ausbeuteten.

Die zaristische Regierung half nicht nur den Volksmassen der Grenzgebiete nicht, sich von den Überbleibseln der rückständigen patriarchalischen Lebensformen zu befreien, sondern festigte und unterstützte diese Überbleibsel auf jedwede Weise. Die Politik des russischen Zarismus gegenüber den nichtrussischen Völkerschaften charakterisierend, schrieb J.W. Stalin: Der Zarismus pflegte in den Grenzgebieten absichtlich die patriarchalisch-feudale Bedrückung, um die Massen in Sklaverei und in Unwissenheit zu halten. Der Zarismus besiedelte vorsätzlich die besten Winkel der Grenzgebiete mit kolonisatorischen Elementen, um die Eingeborenen in die schlechtesten Gebiete zurückzudrängen und die nationale Zwietracht zu verstärken. Der Zarismus bedrückte, mitunter schloss er auch einfach die örtlichen Schulen, Theater, Bildungsanstalten, um die Massen in Unwissenheit zu halten. Der Zarismus unterband jedwede Initiative der besten Menschen aus der ortsansässigen Bevölkerung. Schließlich tötete der Zarismus jedwede Aktivität der Volksmassen der Grenzgebiete ab. Durch alles dies erregte der Zarismus unter den Eingeborenen tiefstes Misstrauen gegenüber allem Russischen, das zuweilen in eine feindselige Haltung überging.“

Der nationale Druck der herrschenden Klassen im zaristischen Russland zeigte sich vor allem darin, dass die Völker der Grenzgebiete dem russischen Volk nicht gleichberechtigt und der Möglichkeit beraubt waren, ihr eigenes Staatsleben zu haben und eine nationale Kultur zu entwickeln. Die zaristischen Beamten verhöhnten die Sprache und die Gebräuche der unterdrückten Völker, denen es verboten war, ihre Bücher zu drucken, ihre Kinder in der Muttersprache zu unterrichten, ein nationales Theater zu schaffen und sogar ihre nationalen Lieder zu singen. Nachdem die Angliederung Georgiens vollzogen war, unterzeichnete Zar Alexander I. ein neues Manifest über die gegenseitigen Beziehungen zwischen Georgien und Russland, gemäß dem die Verwaltung Georgiens dem neuen obersten georgischen Regenten übertragen wurde. Als Regenten von Georgien und in andere hohe Verwaltungsstellen wurden russische Beamte eingesetzt. An die Spitze Georgiens wurde ein russischer Oberbefehlshaber gestellt, dem das uneingeschränkte Reicht der Ernennung und Absetzung der Amtspersonen eingeräumt wurde. Die georgischen Fürsten und Gutsbesitzer sahen in den russischen Militärbehörden vor allem ihren Schutz gegen die georgische Bauernschaft, die sich sowohl gegen den Druck der zaristischen Behörden als auch gegen ihre eigenen Feudalherren auflehnte. Auf diese Weise bildete sich ein Bündnis zwischen den zaristischen Kolonisatoren und den ortseingesessenen Feudalherren.

Bjelorussland und die Ukraine wurden gleichfalls von russischen Beamten verwaltet und in Gouvernements des Russischen Reiches umgewandelt. Die bäuerliche Bevölkerung dieser Gouvernements war der Ausbeutung seitens der polnischen und russischen Gutsbesitzer ausgesetzt. Aus Erwägungen der internationalen Politik machte die zaristische Regierung den polnischen Gutsbesitzern Zugeständnisse, indem sie ihnen Ländereien, die von den bjelorussischen, ukrainischen und litauischen Bauern bewohnt waren, zuteilte. Auf diese Weise standen diese Bauern unter doppelten Druck: unter dem der polnischen Gutsbesitzer und des russischen Zarismus.

Als in der Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zarenmacht nach Mittelasien vorrückte, bemühte sie sich, es in eine Baumwoll-Rohstoffquelle für die Textilindustrie Russlands zu verwandeln. Die Regierung zwang die örtlichen Bauern, alle ihre Felder mit Baumwollstauden zu bepflanzen; die Baumwolle kam in die Fabriken der russischen Kapitalisten. Dieses Produktionssystem der Baumwolle führte zur Unterjochung der Baumwollbauern sowohl durch die russischen Kaufleute, als auch durch die örtlichen „Bajs“ (Kulaken). Unter Ausnutzung der bitteren Geldnot der Baumwollbauern gewährten die Bajs ihnen Darlehen zu Wucherzinsen, nahmen nicht selten den verschuldeten Bauern das Land weg und verwandelten die Bauern in ihre ewigen Knechte (Tschajriker).

Durch den Schutz der feudalen Privilegien, durch Geschenke und durch die Verleihung von Würden und Orden verwandelte die zaristische Regierung die örtlichen Feudalherren in treue und eifrige Diener. Sie traten als Vermittler im Handel dieser Gebiete mit Russland auf und waren materiell an der Erhaltung des kolonialen Regimes interessiert.

Die städtische Bourgeoisie und die bürgerliche Intelligenz der nationalen Grenzgebiete befanden sich ebenso zu einem beträchtlichen Teil im Dienst bei den zaristischen Kolonisatoren und unterstützten das kolonisatorische Regime.

Der russische Zarismus strebte danach, sich in allen seinen Besitzungen zu festigen und den nichtrussischen Völkerschaften die letzten Reste ihrer Selbstständigkeit zu nehmen. Nach dem Ausspruch Lenins verwandelte sich Russland in ein „Völkergefängnis“. Die russischen Beamten nannten offiziell die nichtrussischen Völkerschaften mit dem verächtlichen Namen „Fremdstämmige“ und erlegten ihnen jede erdenkliche Beschränkung auf. Besonders heftig wurden die Juden verfolgt. Es wurde die „Wohngrenze“ eingeführt, jenseits welcher die Juden sich nicht niederlassen durften. Die zaristischen Behörden hetzten ein Volk gegen das andere, organisierten blutigen Judenprogrome. Mit dem gleichen Ziel, die Völker Russlands unter sich zu entzweien, organisierte die Selbstherrschaft in Transkaukasien das Gemetzel zwischen Armeniern und Tataren.

 

Der Zarismus war der gemeinsame Feind des russischen Volkes und der anderen Völker, die zum Bestand des Russischen Reiches gehörten. Daher fand das russische Volk im Kampf um seine Freiheit und Unabhängigkeit stets die Unterstützung und Sympathie der nichtrussischen Völkerschaften. Andererseits erweckte die nationale Befreiungsbewegung der nichtrussischen Völkerschaften stets das lebhafte Mitgefühl der fortschrittlichen Menschen der russischen Gesellschaft. Nehmen wir z.B. den Aufstand, der unter Führung von Stepan Rasin erfolgte. An ihm nahmen außer den russischen Bauern und Kosaken Baschikren und Tataren teil. Eins der glänzendsten und heroischsten Blätter in der Geschichte des Befreiungskampfes der Völker Russlands war der große Bauernkrieg unter Führung von Jemeljan Pugatschow. An diesem Krieg nahmen die Völker des Wolgagebietes, des Urals und von Kasachstan teil.

Der Kampf der russischen Bauern gegen die leibeigene Ausbeutung fand besondere Sympathie und Widerhall bei den ukrainischen und bjelorussischen Bauern. Wiederholt hatte sich die ukrainische Bauernschaft gegen die Leibeigenschaft erhoben. Eine große Bewegung der Bauernmassen der Ukraine gegen den Druck der Leibeigenschaft entfaltete sich unter der Leitung des legendären Volkshelden Ustin Karmeljuk. Von 1812 bis 1835 stand Karmeljuk an der Spitze der Bauernaufstände in der Ukraine rechts des Dnjepr und riss die Massen der Bauernschaft zum Kampf gegen die polnischen, ukrainischen und russischen Gutsbesitzer fort. Die zaristische Regierung verhaftete Karmeljuk siebenmal und verschickte ihn nach Sibirien, aber jedes Mal flüchtete er und begann den Kampf gegen die Gutsbesitzer von neuem. Infolge seiner ungewöhnlichen Volkstümlichkeit unter der Bauernschaft war Kameljuk nicht zu fassen. In jeder ukrainischen Bauernhütte fand er Schutz und eine Zufluchtsstätte. Im September 1835 wurde Kameljuk während einer Razzia getötet. Die von ihm geleitete Bewegung fand Sympathie und Unterstützung der fortschrittlichen Menschen Russlands.

Auch der Kampf des polnischen Volkes um seine Unabhängigkeit rief die lebhafteste Sympathie der besten russischen Menschen hervor. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts fanden in Polen mehr als einmal Aufstände statt, deren Ziel die Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates war. Große Ausmaße nahm der polnische Aufstand in den Jahren 1830/31 an. Dieser Aufstand endete mit einer Niederlage, da die Adligen, die die Bewegung leiteten, sich vor den Volksmassen fürchteten. Die Bauernschaft, die Agrarreformen verlangte, schloss sich dem Aufstand nicht an.

Nach der Unterdrückung des Aufstandes von 1830/31 wurde über Polen der Kriegszustand verhängt. Die zaristische Regierung traf alle Maßnahmen, um einen neuen Aufstand zu verhüten. Jedoch die außerordentlich schnelle Entwicklung des Kapitalismus in Polen, die durch das feudalistisch-leibeigene Regime des Zarismus gehindert wurde, schuf den Boden für einen neuen Aufschwung des nationalen Befreiungskampfes Polens um seine Selbstständigkeit. Dieser Aufschwung wurde auch durch die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Europa und in Russland selbst gefördert.

Im Januar 1863 begann ein neuer polnischer Aufstand, in welchem sich breitere Schichten der kleinen Gutsbesitzer, der städtischen Arbeiter und der Handwerker, der polnischen demokratischen Intelligenz und ein beträchtlicher Teil der Bauernschaft zum Kampf erhoben. Jedoch herrschte in der nationalen Befreiungsbewegung des Jahres 1863 keine Einigkeit. Die großen Gutsbesitzer, die Eigentümer der Latifundien (der großen Güter), waren eng mit dem russischen Zarismus verbunden und zogen eine Verständigung mit der zaristischen Regierung vor.

Die von den Aufständischen geschaffene Regierung, in der Mehrzahl aus Angehörigen der Schlachta (des Kleinadels) bestehend, erschrak vor dem Schwung der Bewegung, die sich zu einem Kampf der Bauern um Land ausweitete, und forderte die Bauern auf, nach Hause zu gehen. Durch diese Maßnahme schwächte sie die Bewegung. Die polnischen Schlachtschitzen setzten ihre Hoffnungen auf die europäischen Mächte, aber weder von Frankreich noch von Österreich erhielt Polen die versprochene Hilfe. Zar Alexander II. traf mit dem König von Preußen ein Abkommen über die gemeinsame Unterdrückung des polnischen Aufstandes, zog eine gewaltige Armee zusammen und setzte sie zur Unterdrückung des aufständischen Polens ein.

Der Aufstand griff von Polen nach Litauen, Bjelorussland und auf die benachbarten Gebiete der Ukraine über. Die Bauern Litauens und Bjelorusslands erhoben sich gegen die Gutsbesitzer, und zwar sowohl gegen die russischen wie auch gegen die polnischen. Organisator und Führer des Aufstandes in Bjelorussland war Kastusj Kalinowskij. Er forderte Freiheit und Selbstverwaltung für das heimatliche Bjelorussland und Durchführung einer Bodenreform zugunsten der Bauern. Der Aufstand in Polen, Litauen und Bjelorussland wurde grausam unterdrückt. Die Führer des Aufstandes, die polnischen revolutionären Offiziere Wrublewskij und Dombrowskij flohen nach Frankreich. Der Führer der aufständischen bjelorussischen Bauern Kastusj Kalinowskij und viele Hunderte von Teilnehmern des Aufstandes wurden hingerichtet.

Während die Kräfte der russischen und europäischen Reaktion zur Unterdrückung des Aufstandes in Polen eingesetzt waren, unterstützten die russischen revolutionären Demokraten, mit Herzen und Tschernyschewskij an der Spitze, eifrig den Kampf des polnischen Volkes um seine Freiheit. Ein Teil der russischen Offiziere, die nicht an der Unterdrückung des Aufstandes teilnehmen wollten, nahm den Abschied. Einige russische Offiziere beteiligten sich an dem bewaffneten Kampf der Polen gegen den Zarismus.

Die geheime Gesellschaft „Semlja i Wolja“ („Erde und Freiheit“) schloss mit dem litauisch-bjelorussischen Komitee der Aufständischen zum gemeinsamen Kampf gegen den Zarismus mit der Losung: „Für eure und unsere Freiheit“ ein Bündnis. Serakowskij, einer der nächsten Mitkämpfer Tschernyschewskijs, leitete den Aufstand der litauischen Bauern. In seiner Zeitschrift „Kolokol“ („Die Glocke“) verteidigte Herzen unablässig die Rechte des polnischen Volkes auf seine Unabhängigkeit und geißelte die zaristischen Unterdrücker und Henker.

Auf diese Weise näherten sich die fortschrittlichen Vertreter des russischen Volkes und die unterdrückten nichtrussischen Völkerschaften immer mehr und mehr in dem gemeinsamen Kampf um ihre soziale und nationale Befreiung.

Vor dem Auftreten der Arbeiterklasse in Russland konnte jedoch der Befreiungskampf der unterdrückten Völkerschaften, wie auch der Aufstand der russischen Bauern, nicht erfolgreich sein. Erst die neue historische Epoche, die mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland und seinen Kolonien verbunden ist, schuf die Bedingungen für die Umwandlung der zersplitterten nationalen Befreiungsbewegungen in eine breite allgemein-demokratische Bewegung, geführt von dem russischen Proletariat, dem konsequentesten und entschlossensten Kämpfer gegen den Zarismus, für die Befreiung der unterdrückten Völker.

Zur Lage der Völker in der Sowjetunion (Stand 1947) siehe „Der Staatsaufbau der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Westeuropa. Russland in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Zar Nikolaj I., der den Thron während des ersten offenen Aufstandes gegen den Zarismus bestiegen hatte, erblickte die Hauptaufgabe seiner Regierung in der Festigung der Selbstherrschaft und der Erhaltung der Leibeigenschaft. Sein Bestreben war, das ganze Land in ein militärisches Zuchthaus zu verwandeln.

Zum Schutze der bestehenden Ordnung wurde das Gendarmeriekorps gebildet. Die geheime politische Polizei berichtete über die Geisteshaltung der Untertanen. Besondere Beamten-die Zensoren-schauten vorher sämtliche Bücher, Zeitschriften und Privatbriefe durch, um „in die Geisteshaltung einzudringen, um zu beobachten, wer sich frei und unehrbietig über Religion und Staatsgewalt äußert“. Bei den Gerichten wurden die Prozesse nicht öffentlich geführt. Jedes Freidenkertum wurde streng bestraft.

Die Regierung Nikoajs I. erachtete es für gefährlich, das Volk aufzuklären. Der Minister für Bildungswesen, Uwarow, sagte: „Ich werde beruhigt sterben, wenn ich die Entwicklung Russlands um 50 Jahre verzögere.“ Der Unterricht wurde im Geiste „der Rechtgläubigkeit, der Selbstherrschaft und der Völkischheit“ erteilt. Die Erziehung und der Unterricht im Geiste dieser „Grundsätze“ sollten in der Seele der Jugend das Gefühl des Protestes gegen das Leibeigenschafts-Regime und die Selbstherrschaft ersticken.

Der russische Zar befürchtete das Eindringen der „Revolutionären Seuche“ vom Westen. Die Revolution in Europa trat ihren Triumphzug an. Im Juli 1830 flammte in Frankreich eine neue Revolution auf. Im November desselben Jahres begann der Aufstand in Polen. Nikolaj I. brach unverzüglich die Beziehungen zu Frankreich ab und schickte eine große Armee gegen Polen. Zur gleichen Zeit trat er mit den reaktionären Regierungen Österreichs und Preußens in Verhandlungen ein, um die weitere Ausbreitung der Revolution zu verhindern. „Die Revolution steht auf der Schwelle Russlands“, sagte er, „aber ich schwöre bei Gott, solange ich atme, wird sie diese Schwelle nicht überschreiten!“

Die revolutionäre Bewegung in Europawuchs weiter an. Die Arbeiterklasse, die als Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus aufkam, trat in den 30-40er Jahren des 19. Jahrhunderts mit ihren Forderungen auf. Im Jahre 1831 fand in Lyon (Frankreich) der erste Aufstand der Webereiarbeiter statt. Fast zur gleichen Zeit begannen die englischen Arbeiter einen revolutionären Kampf um die Gewährung politischer Rechte. Die Arbeiter legten ihre Forderungen in einem Dokument nieder, das sie „Charta“ nannten. Diese politische Bewegung wurden „Chartismus“ genannt.

In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts erstanden den Arbeitern große Führer: Karl Marx und Friedrich Engels. Sie organisierten die erste Partei der Arbeiterklasse: den „Bund der Kommunisten“, und schrieben für sie ein Programm: das „Manifest der Kommunistischen Partei“. In dem „Manifest“ wird dargelegt, dass der jahrtausendelange Kampf zischen Unterdrückern und Unterdrückten mit dem Sieg der Arbeiterklasse enden muss, die die proletarische Diktatur errichten und den Sozialismus aufbauen wird. Das „Manifest“ schließt mit dem Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Im Juni 1848 erhoben sich die Pariser Arbeiter mit der Waffe in der Hand zum ersten Mal zum Kampf um ihre Rechte. Aber sie waren noch schwach und nicht organisiert, und erlitten eine Niederlage. Nichtsdestoweniger fand die französische Revolution des Jahres 1848 in fast allen Ländern Europas einen Widerhall.

Im Jahre 1849 siegte die Revolution in Ungarn, das die Unabhängigkeit von der österreichischen Monarchie, der es einverleibt war, verkündete.

Nikolaj I., der gemeinsam mit dem preußischen und österreichischen Monarchen die Gegenrevolution in Europa unterstütze, schickte zur Niederschlagung der ungarischen Revolution eine Armee von 100 000 Mann. Von österreichischen und russischen Truppen umzingelt, war die revolutionäre Armee Ungarns gezwungen, sich zu ergeben. Den russischen Zaren nannte man den Gendarmen Europas. Auch die anderen feudalen Monarchen, besonders der König von Preußen, spielten die Rolle von Gendarmen.

Der Zarismus konnte die Entwicklung der russischen Geschichte jedoch nicht aufhalten. Das Leibeigenschaftssystem in Russland machte eine Krise durch. Eine der markantesten und krassesten Erscheinungen dieser Krise waren die sich immer öfter wiederholenden Bauernaufstände gegen die Leibeigenschaft.

Im Lande ginge große Veränderungen vor. Die Bevölkerung in den Städten vergrößerte sich. Der Handel mit Europa und im Inneren dehnte sich aus. Von den40-50er Jahren an beginnt die kapitalistische Manufaktur durch die Fabrik (die maschinelle Großindustrie) abgelöst zu werden. In den Fabriken arbeiteten bereits viele Lohnarbeiter. Die Fabrikanten begannen, aus dem Ausland Maschinen zu beziehen. Die Einfuhr der Maschinen aus dem Ausland stieg in den 25 Jahren von 1835 bis 1860 um das 25fache. Es entstanden Eisenbahnen. Im Jahre 1851, wurde eine große Eisenbahn gebaut, die die damals alte Hauptstadt Moskau mit der damals neuen, Petersburg, verband.

Jedoch der Entwicklung des Kapitalismus stand die Leibeigenschaft im Wege. Die Industrie arbeitete schlecht, da die leibeigene Arbeitskraft sich für die Entwicklung des Kapitalismus als unproduktiv und unvorteilhaft erwies. Auch in der Landwirtschaft erwies sich die Arbeit mit Leibeigenen als unvorteilhaft. Im Frondienst arbeiteten die Leibeigenen schlecht. Die Technik der Landwirtschaft war noch rückständiger als in der Industrie. Die Ernten waren schlecht. Die Gutsbesitzer, die Geld brachten, steigerten die Ausbeutung ihrer Leibeigenen. Die Bauern kamen herunter und verarmten.

 

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

 

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

ORIGINAL-TEXT aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1, aus dem Jahre 1947

Der Krimkrieg und die Verteidigung von Sewastopol

Die fortschrittlichen russischen Menschen, die für Abschaffung der Leibeigenschaft kämpften, sahen ein, dass in ihr der Grund nicht nur für die wirtschaftliche, sondern auch für die militärische Schwäche des Landes zu suchen sei. Sie sahen voraus, dass das Russland der Leibeigenschaft im Falle eines militärischen Zusammenstoßes mit den bürgerlichen Staaten Europas eine ernste Niederlage erleiden würde.

Die zaristische Selbstherrschaft strebte nach der Beherrschung der der Türkei gehörenden Meerengen: des Bosporus und der Dardanellen. Hier hatte Russland jedoch mächtige Nebenbuhler: England, Frankreich und Österreich. Jede von diesen Mächten war bemüht, das Wirtschaftsleben der Balkanhalbinsel in seine Hand zu bekommen. Die Meerengen wurden zur Quelle eines erbitterten Kampfes des zaristischen Russlands mit seinen starken Konkurrenten.

Der Krieg Russlands mit der Türkei brach im Jahre 1853 aus. Im Juni dieses Jahres besetzte eine 80 000 Mann starke russische Armee die Donaufürstentümer Moldau und Walachei. Im November 1853 spürte das Geschwader des Admirals Nachimow auf der Reede von Sinope (an der Südküste des Schwarzen Meeres) türkische Schiffe auf und versenkte sie. Jedoch war die Hauptmacht nicht die Türkei, sondern ihre mächtigen Verbündeten: England und Frankreich. Im Herbst 1854 führ ihre Flotte, die mehr als 360 Dampf- und Segelkriegsschiffe, gewaltige Transportschiffe, mit Truppen und Artillerie beladen, zählte, ins Schwarze Meer ein und nach Jewpatorija, wo sie vor Anker ging. Die russische Segelschiff-Schwarzmeerflotte konnte sich mit der Dampfschiffflotte nicht in ein Gefecht einlassen, und man beschloss, sie am Eingang der Bucht von Sewastopol zu versenken, damit sie dem Geschwader des Gegners den Zugang in diese versperren sollte.

Die Kriegshandlungen konzentrierten sich während des Ostkrieges vornehmlich in der Krim, daher wird der Krieg Russlands mit England und Frankreich in den Jahren 1853 bis 1855 auch Krimkrieg genannt.

Die Stütze der Verteidigung Russlands im Schwarzen Meer war die starke Seefestung Sewastopol. Die Zugänge zur Bucht und ihre Ufer waren gut befestigt und machten Sewastopol für den Feind von der Seeseite her unzugänglich. Aber von der Landseite her war Sewastopol überhaupt nicht befestigt. Seine Garnison war nicht groß, obgleich sie nach der Versenkung der Schiffe noch durch Matrosen ergänzt wurde.

Die Admirale Nachimow und Kornilow leiteten die Verteidigung. Indem sie das Zögern des Gegners ausnutzten, begannen sie, Sewastopol auf der Landseite zu befestigen, dabei auch nicht den leisesten Gedanken an einen Rückzug zulassend. „Wir werden bis zum letzten kämpfen“, schrieb Kornilow in einem seiner Befehle. „Es gibt keinen Weg zum Rückzug, hinter das Meer. Allen Vorgesetzten verbiete ich, das Rückzugssignal zu geben, dann erstecht einen solchen Vorgesetzten; erstecht den Trommler, der es wagen würde, ein solches schmachvolles Signal zu trommeln.“

Im Verlaufe von zwei Wochen wurde die Stadt mit drohenden Bollwerken und Feldbefestigungen umgeben. Die Schiffsgeschütze der versenkten Schiffe wurden in den Batterien aufgestellt. Als die verbündete Armee an Sewastopol herangerückt war in der Hoffnung, die Festung in einem leichten und schnellen Sturm zu nehmen, sah sie mit Erstaunen eine starke Befestigungslinie vor sich. Da die englisch-französischen Truppen nicht damit rechneten, dass ein Sturm Erfolg haben würde, gingen sie zur Belagerung der Stadt über und besetzten Balaklawa und die Fedjuchinhöhen.

Nachdem die Verbündeten Sewastopol eingeschlossen hatten, eröffneten sie am 5. Oktober 1854 ein gewaltiges Artilleriefeuer auf die Festung. Bei dem ersten Bombardement kam der Befehlshaber der Verteidigung, Kornilow, um.

Nach dem Tode Kornilows wurde Admiral Nachimow die Seele der Verteidigung Sewastopols. Die Matrosen nannten ihn einfach Pawel Stepanowitisch. Zwischen Nachimow und den Matrosen herrschte ein tiefes gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Liebe. Er rief die Matrosen auf, ihr Sewastopol bis zum Ende zu verteidigen.

Die von Nachimow erzogenen Matrosen wurden die Löwen der Nachimow genannt. Unter ihrem Einfluss befanden sich sämtliche Soldaten der Garnison Sewastopol.

Die Verteidiger Sewastopols zeigten eine unermüdliche Energie und ein hohes Verantwortungsbewusstsein bei dem Bau der Befestigungsanlagen. Unter der Oberleitung des Ingenieurs Totleben errichteten die Matrosen und Soldaten Befestigungen, besserten die zugefügten Beschädigungen aus, legten Unterstände an. Nicht selten ersetzten die Matrosen die ausgeschiedenen Artilleristen auf den Festungsbastionen. Tag und Nacht machten die Soldaten und Matrosen Ausfälle, überfielen die Vorposten des Feindes, zuweilen drangen sie in die feindlichen Schützengräben ein und begannen ein erbittertes Handgemenge.

Alle Einwohner Sewastopols unterstützten unermüdlich die Verteidiger der Festung – die Soldaten und Matrosen: die Frauen der Matrosen brachten den Verteidigern der Bastionen unter Lebensgefahr Speise und Wasser, schleppten Granaten heran, leisteten den Verwundeten Hilfe; selbst die Halbwüchsigen (altes Wort für Teenager P.R.) und die Kinder der Matrosen bestätigten sich mutig auf den Befestigungsanlagen.

Unter den Verteidigern von Sewastopol befand sich auch der spätere große Schriftsteller Nikolajewitsch Tolstoi. In seinen „Sewastopoler Erzählungen“ schilderte er mit großer künstlerischer Kraft die heroischen Tage der Verteidigung Sewastopols.

Zu Beginn des Jahres 1855 nahm der Kampf noch an Erbitterung zu. Der Feind führte von der Land- wie von der Seeseite her orkanartige Bombardements auf die Festung durch. Am 26. Mai unternahm er den ersten Sturm auf Sewastopol.

Nach einem erneuten Bombardement wurde der Sturm am 18. Juni 1855 wiederholt. Die Feinde stürzten sich auf eine ganze Reihe von Bastionen zugleich. Ungeachtet der Überlegenheit der Kräfte der Stürmenden haben-nach den Worten eines französischen Generals – „die Russen sich selbst übertroffen“.

Aber der Kampf wurde immer schwerer. In Sewastopol gab es nur 50 000 ermüdeter und entkräfteter Kämpfer. Die Verbündeten hatten 100 000 Mann an Truppen und nach wie vor das Übergewicht in der Bewaffnung. Einer nach dem anderen fielen die besten Organisatoren der Verteidigung Sewastopols, Istomin und Nachimow. Totleben wurde schwer verwundet, jeden Tag schieden viele Hunderte von Leuten aus.

Am 27. August 1855 begann der Feind einen neuen Sturm auf Sewastopol. Die russischen Soldaten und Matrosen unternahmen mehr als einmal Gegenangriffe. Die Abhänge des Malachowhügels waren mit Leichen übersät.

Schon war aber Sewastopol nicht mehr zu halten. In der Nacht gingen die Verteidiger auf Befehl des Kommandos auf die Nordseite über, nachdem die Pulverkammern und sämtliche Militärmagazine gesprengt worden waren. Die ruhmvolle 349tägige Verteidigung Sewastopols war beendet. Den Siegern verblieben nur „blutige Ruinen“, wie sie in ihren Meldungen schrieben. Sewastopol war gefallen, aber es war nicht besiegt. Russland war gezwungen, den Pariser Friedensvertrag zu unterschreiben, demzufolge es nicht das Recht hatte, im Schwarzen Meer eine Flotte zu halten.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

ORIGINAL-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“ aus dem Jahre 1947

Der Einfall Napoleons in Russland. Die Zerschmetterung der napoleonischen Armeen

Im Jahre 1812 lag fast ganz Westeuropa zu Füßen des Eroberers Napoleon. Aber Napoleon wusste, dass er nicht der Beherrscher der Welt werden konnte, solange er Russland nicht zerschmettert hatte. Er begann eine große Vorbereitung für eine Invasion in Russland. Napoleon wollte Russland zerstückeln, die Ukraine von ihm losreißen und Russland in eine Kolonie Frankreichs verwandeln.

In der Nacht zum 12. Juni 1812 setzte die „Große Armee“ Napoleons über den Njemen und begann den Angriff gegen Russland.

Die napoleonische Armee wies damals eine Stärke von 600 000 Man auf. Den Hauptstreitkräften Napoleons stellte sich die 1. Russische Armee unter dem Befehl Barclay de Tollis entgegen. Sie hatte eine Frontstellung am Ufer des Njemen bezogen. Die 2. Armee, an deren Spitze Baration stand, befand sich im Süden Litauens, und zwar zwischen Njemen und Bug. In Reserve war noch die kleine 3. Armee des Generals Tormassow, die in Wolhynien und Podolien stand.

Napoleon hatte sich die Aufgabe gestellt, Russland mit einem schnellen Schlag zu erledigen. Er rechnete damit, schon in den ersten Tagen des Krieges so tief wie möglich sich zwischen die Armeen Barclays und Bagrations einzukeilen und sie einzeln zu schlagen. Die russische Führung nahm sie unter den damaligen Bedingungen einzig richtige Taktik an: sich zurückzuziehen, einer Entscheidungsschlacht auszuweichen und die beiden Armeen auf dem Vormarschweg Napoleons auf Moskau zu vereinigen. Marx hat darauf hingewiesen, dass der Rückzugsplan der russischen Armee keine Angelegenheit einer freien Wahl, sondern eine harte Notwendigkeit war.

Nach anderthalb Monaten gelang es endlich den Armeen Barclays und Bagrations, sich bei Smolensk zu vereinigen. Zur selben Zeit war Napoleon gegen Smolensk vorgerückt und begann es mit Kanonen zu beschießen. Barclay gab den Befehl die Pulvermagazine in die Luft zu sprengen und die in Flammen stehende Stadt zu verlassen. Gemeinsam mit den Truppen zogen die Einwohner von Smolensk ab, die ihre Häuser und sonstige Habe angezündet hatten, damit dem Feind nichts in die Hände fiel.

Die Ergebnisse der Taktik von Barclay zeigten sich sehr bald. Napoleons Armee, die noch keine einzige größere Schlacht geliefert hatte, erlitt große Verluste. Schon in den Gebieten Litauens und Bjelorusslands hatte der Krieg den Charakter eines Volkskrieges angenommen. Die litauischen und bjelorussischen Bauern weigerten sich, die französische Armee mit Lebens- und Futtermitteln zu beliefern, sie erschlugen französische Soldaten und Offiziere, stellten Abteilungen auf und fielen über die französischen Nachhuten her.

Weite Schichten der russischen Gesellschaft, die die Taktik Barclays nicht verstanden, waren äußerst unzufrieden mit dem Rückzug und verlangten einen Wechsel in der Kommandoführung. Ein Name nur im Munde aller: Kutusow.

Alexander I., der dem Verlangen der Armee und des Adels nachkam, ernannte ihn zum Oberbefehlshaber.

Kutusow kam am 17. August zur Armee, die sich nach Zarjowo Sajmischtsche zurückzog. Die Soldaten empfingen den neuen Befehlshaber mit Jubel. „Kutusow ist gekommen, um die Franzosen zu schlagen“ (Im Russischen ein Reim), sprachen sie untereinander. Kutusow setzte den Rückzug fort und begann eine energische Vorbereitung für die Schlacht.

 

Die Stellung für die Schlacht mit den Franzosen wurde in der Nähe des Dorfes Borodino gewählt. Die Gegend war hier hügelig und von Schluchten durchzogen. Im Zentrum der Stellung der russischen Armee befand sich das Dorf Borodino und am linken Flügel das Dorf Semjonowskoje. Die breite Ebene vor dem Dorf Semjonowskoje war für Bewegungen der Truppen günstig. Hier wurden eilig drei Erdbefestigungen mit kleinen Gräben und niederen Wällen angelegt.

Kutusow übernahm das allgemeine Kommando, die rechte Flanke übertrug er Barclay de Tolli und die linke Bagration. Das Zentrum verteidigte die Batterie unter dem Kommando des Generals Rajewskij.

Am Morgen des 26. August trafen sich die französische und die russische Armee auf dem Feld von Borodino. Napoleon näherte sich Borodino mit einer Armee von 135 000 Mann und einer Artillerie von 587 Geschützen. Die russischen regulären Truppen zählten bei Borodino 120 000 Mann.

Napoleon plante, den Hauptschlag gegen die linke Flanke der Russen zu führen. Ein Angriff der Franzosen folgte dem anderen, aber die russischen Truppen, angefeuert von Bagration, schlugen sie mit ungewöhnlicher Standhaftigkeit ab. Napoleon war gezwungen, auf diesem Abschnitt bis zu 400 Geschütze zu konzentrieren. Mehr als sechs Stunden dauerte die Schlacht. Von den Splittern einer Kanonenkugel wurde Bagration tödlich verwundet. General Dochturow übernahm das Kommando. Die russischen Truppen kämpften heldenmütig. Nur mit gewaltigen Anstrengungen gelang es den Franzosen, den linken Flügel der russischen Armee zu bedrängen. Danach befahl Napoleon, die Batterie Rajewskijs anzugreifen. In einem Erbitterten Ringen kamen fast alle ihre Verteidiger um.

Aber den Franzosen gelang es nicht, den Widerstand der russischen Armee zu brechen; Kutusow leitete geschickt die Schlacht. Im entscheidenden Moment dirigierte er gegen den Rücken des Feindes die Kosaken Platows, deren Angriff Napoleons Absichten vereitelte.

Die Schlacht von Borodino war außerordentlich erbittert. Die Verluste auf beiden Seiten waren sehr groß. Als Reserve verblieb Napoleon nur seine berühmte Garde, aber er lehnte es entschieden ab, sie in den Kampf zu schicken. „3000 Kilometer von Paris entfernt kann ich nicht meine letzte Reserve aufs Spiel setzen“, erklärte Napoleon. Am Abend gab er den Befehl, die Truppen vom Schlachtfeld zurückzuziehen.

Die Schlacht bei Borodino offenbarte den Heldenmut und die Kraft der russischen Armee.

In seiner Meldung an den Imperator Alexander I. über die Schlacht bei Borodino äußerte sich Kutusow mit großem Lob über die außerordentliche Tapferkeit und Kühnheit der russischen Soldaten: „Die Schlacht war eine allgemeine, die bis in die Nacht hinein andauerte. Die Verluste sich auf beiden Seiten groß; die feindlichen Verluste, nach den hartnäckigen Attacken auf unsere Stellung zu schließen, müssen unsere beträchtlich überschreiten. Die Truppen Eurer Kaiserlichen Majestät kämpften mit unglaublicher Tapferkeit, die Batterien gingen mehrmals aus einer Hand in die andere über. Es endigte damit, dass der Feind trotz seinen überlegenen Kräften nirgends einen Schritt Land gewann.“

Napoleon selbst gestand vor seinem Tod: „Von allen meinen Schlachten war die schrecklichste jene, die ich bei Moskau lieferte. Die Franzosen zeigten sich in dieser Schlacht würdig, den Sieg davonzutragen, die Russen aber erwarben sich den Ruf, unbesiegbar zu sein.“

Nach der Schlacht bei Borodino hatte jedoch die russische Armee immer noch nicht das Übergewicht der Kräfte und zog sich auf der Moskauer Landstraße langsam zurück. Niemand glaubte an die Möglichkeit einer kampflosen Übergabe Moskaus. Aber die Stellung bei Moskau war für eine neue Schlacht ungeeignet. Es war nötig, die Armee für den bevorstehenden Kampf zu erhalten und vorzubereiten. Kutusow entschloss sich, Moskau aufzugeben. Auf dem Kriegsrat im Dorf Fili sprach Kutusow zu seinen Generalen: „Solange die Armee noch besteht und sich in dem Zustand befindet, dem Gegner Widerstand zu leisten, solange werden wir die Hoffnung bewahren, den Krieg günstig zu beenden. Wenn aber die Armee vernichtet sein wird, werden Moskau und Russland untergehen.“

Kutusow nahm in vollem Umfang die Verantwortung für die Übergabe Moskaus auf sich. Als er allein war, konnte er sich nicht beherrschen und fing an zu weinen. „Aber nicht doch“, rief er im Zorn und schlug mit der Faust auf den Tisch, „sie werden Pferdefleisch fressen wie die Türken!“

Am frühen Morgen des 2. September 1812 marschierten die zurückziehenden russischen Truppen in einem ununterbrochenen Strom durch Moskau. Gemeinsam mit der Armee verließen die Einwohner die Stadt.

Als die französische Armee das stille und menschenleere Moskau betrat, flammte in vielen Stadtteilen Brände auf. Sie hielten sechs Tage an. Aus den Fenstern des Kremlpalastes schaute Napoleon auf das Flammenmeer. Der stolze Eroberer schauderte: „Was für ein Volk“rief er aus. Sie selbst verbrennen alles. Das kündigt uns viel Unglück an.“

Niemand bekämpfte die Brände. Die Moskauer sagten beim Verlassen der Stadt: „Möge alles zugrunde gehen, wenn es nur dem Feind nicht in die Hände fällt!“

Die napoleonische Armee plünderte im brennenden Moskau alles, was vom Feuer verschont blieb. Unter den französischen Soldaten begann eine „epidemische Trunksucht“, die „Große Armee“ zersetzte sich. Auf alle Friedensvorschläge, mit denen sich Napoleon an Alexander I. wandte, bekam er keine Antwort. In Moskau zu überwintern, war sinnlos. Napoleon entschloss sich, Moskau zu verlassen.

Am 6. Oktober, um 7 Uhr morgens, begann Napoleon den Rückzug aus Moskau. Er wandte sich nach Kaluga, wo sich die Proviantlager der russischen Armee befanden. Aber noch vordem hatte Kutusow, der zum Schein auf der Rjasaner Landstraße aus Moskau abgerückt war, ein Umgehungsmanöver vorgenommen und erschien auf der Kalugaer Landstraße. Hier, bei Malojaroslawez, verlegte die russische Armee Napoleon den Weg. Es entwickelte sich ein hartnäckiger Kampf. Achtmal an einem Tag ging Malojaroslawez von einer Hand in die andere über. Napoleon, der sich nicht zu einer neuen Generalschlacht mit den Truppen Kutusows entschlißen konnte, befahl, auf die alte Smolensker Landstraße abzudrehen. Kutusow verfolgte unablässig den Feind im parallelen Marsch und brachte ihm ernste Flankenschläge bei. Im Rücken und auf den Wegen der zurückgehenden napoleonischen Armee operierten die russischen Partisanen.

Einer der Organisatoren der Partisanenabteilungen war der Dichter und Husar Denis Dawydow, ein begeisterter Anhänger und Verehrer von Suwurow. Später fasste er seine reichen Erfahrungen im Partisanenkampf in einem Buch unter dem Titel „Tagebuch der Partisanenaktionen im Jahre 1812“ zusammen. Dawydow prophezeite, dass der Partisanenkampf in den Befreiungskriegen des russischen Volkes eine große Rolle spielen würde.

Die Partisanen lauerten die französischen Trossen auf und fielen über sie her, oder sie beunruhigten die Nachhuten des Gegners mit ihren plötzlichen Überfällen. Sie nahmen einzelne Soldaten und auch ganze französische Abteilungen gefangen. Die Partisanen wurden eifrig von den Bauern unterstützt, die nicht selten selber Partisanenabteilungen aufstellten und mit außergewöhnlicher Tapferkeit kämpften. Diejenigen, die keine Gewehre hatten, gingen mit Beilen und Mistgabeln in den Kampf. Die Bauernfrauen nahmen neben den Männern am Partisanenkampf mit dem Feind teil. Kutusow unterstützte auf jede Art das Vorgehen der Bauern gegen die napoleonischen Armeen. „Welcher Feldherr würde nicht, wie ich, mit einem solchen tapferen Volk dem Feind eine Niederlage bereiten können? Ich bin glücklich, dass ich die Russen führe!“ schreib Kutusow, als er die gewaltige patriotische Erhebung des Volkes sah.

Die russischen Truppen verfolgten ununterbrochen den Feind, der dadurch große Verluste erlitt. Bei Krasnoje fand eine neue Schlacht statt, die Napoleon viele Tausende von Soldaten kostete. Es traten frühzeitige Fröste ein. Der Schnee bedeckte die Ebenen und die zerstörten oder verbrannten Dörfer, in denen die Franzosen weder Schutz vor der Kälte noch Nahrung fanden. Eine Massenfahnenflucht begann. Die Disziplin sank. Die Verbände der hungrigen französischen Soldaten verwandelten sich in Banden von Marodeuren.

Unablässig von Kutusow verfolgt, erreichte Napoleon endlich die Beresina. Der Übergang erfolgte unter einem Kugelhagel. Mit Napoleon überschritten etwas 60 000 Man die Beresina.

Aber auch diese Armee lichtete sich immer mehr. Ende Dezember blieben von der „Großen Armee“ kaum 30 000 Mann übrig.

Als der Feind endgültig vom russischen Gebiet verjagt war, las das gesamte Land mit freudigem und stolzem Gefühl Kutusows Aufruf an die Armee, in dem er den beispiellosen Heldentaten und der Tapferkeit der russischen Soldaten Anerkennung zollte: „Tapfere und siegreiche Truppen! Endlich seid ihr an den Grenzen des Reiches angelangt! Jeder von euch ist ein Retter des Vaterlandes, Russland begrüßt euch mit diesem Namen! Die ungestüme Verfolgung des Feindes und die außergewöhnlichen Mühen, die ihr in diesem schnellen Feldzug auf euch genommen habt, setzen alle Völker in Erstaunen und bringen uns unsterblichen Ruhm ein.“

Das russische Volk und seine heldenhafte Armee, geführt von dem großen Feldherren Kutusow, zerschmetterten die französischen Eroberer, die auf Russlands Unabhängigkeit einen Anschlag verübt hatten. Das russische Volk erblickte in Napoleon einen Eroberer und einen Unterjocher und begann gegen ihn einen allgemeinen Volkskampf. Darin lag der Hauptgrund des Unterganges der „Großen Armee“ Napoleons.

Der Krieg des Jahres 1812 war ein gerechter Krieg des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit. Er ging in die Geschichte Russlands unter der Bezeichnung „Vaterländischer Krieg“ ein.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin:  Anna Michailowna Pankratowa

ORIGINAL-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Die Dekabristen-adlige Revolutionäre

Nach der Niederlage Napoleons in Russland erhoben sich die Völker Europas zum nationalen Befreiungskampf gegen ihn. Die feudalen Monarchen jedoch erschraken vor der Volksbewegung. Zum Kampfe gegen die revolutionäre Bewegung in Europa wurde im Jahre 1815 die „Heilige Allianz“ der drei reaktionären Monarchien: Österreich, Preußen und Russland geschlossen. Der Führer und Anreger der „Heiligen Allianz“ war Alexander I.

Im Innern Russlands führte Alexander I. ebenfalls eine reaktionäre Politik durch, indem er Gutsbesitzer, die Anhänger der Leibeigenschaft, unterstützte. Der entschiedenste Verfechter der Reaktion war der nächste Ratgeber des Zaren, der Kriegsminister Araktschejew. Die Bauern und Soldaten hassten ihn wegen der von ihm eingeführten Militärsiedlungen. In diesen Siedlungen wurden die Bauern an die ihnen zugewiesenen Landparzellen, die sie bearbeiten mussten, gebunden und zu lebenslänglichem und erblichen Soldatendienst gezwungen. In den Siedlungen herrschte Kasernenzwang und die Unfreiheit der Leibeigenschaft. Die Bauern leisteten ihrer Überführung in die Militärsiedlungen hartnäckig Widerstand.

In der Armee fanden große Unruhen statt, hervorgerufen von Araktschejews unerträglichem Regime. Auch gegen die adligen Eigentümer der Manufakturen begannen Aufstände. Eine immer größere Anzahl von Menschen in Russland fing an, die Notwendigkeit des Kampfes gegen das Leibeigenschaftssystem zu begreifen. Sie sahen ein, dass das Land ohne Abschaffung der Leibeigenschaft zugrunde gehen würde.

Der Krieg des Jahres 1812 und die Feldzüge im Ausland, die die russischen Soldaten und Offiziere mit den europäischen Ländern bekannt gemacht hatten, verstärkten die Unzufriedenheit und den Protest der besten Menschen Russlands gegen die Leibeigenschaft in ihrem Vaterland. Eine Folge der Feldzüge im Ausland war, dass die Rückständigkeit der auf der Leibeigenschaft beruhenden Staatsordnung Russlands gegenüber dem bürgerlichen Europa offener zutage trat. Viele der russischen Offiziere lasen die Werke der fortschrittlichen Schriftsteller und Gelehrten Westeuropas. Den größten Einfluss übten auf sie die politischen und geschichtlichen Werke der französischen Aufklärer aus: Voltaire, Montesquieus, Rousseaus und anderer Schriftsteller. Die fortschrittlichen Menschen aus den Reihen der Adligen waren russische Patrioten, die von einer besseren Ordnung für ihr Vaterland träumten. Sie beschlossen, eine Änderung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in Russland herbeizuführen.

Die adligen Revolutionäre fingen an, geheime politische Gesellschaften zu bilden, die sich die Umgestaltung Russlands auf neuen Grundlagen zum Ziel setzten. Im Jahre 1816 wurde der „Bund der Rettung“ und im Jahre 1818 der „Bund des Wohlstandes“ gegründet. Nach ihrem Zerfall bildeten sich die „Südliche Gesellschaft“ in der Ukraine und die „Nördliche Gesellschaft“ in Petersburg. Das Haupt der „Südlichen Gesellschaft“ war Oberst Pestel, ein Mann von großem Verstand, umfangreicher Bildung und starkem Charakter. Puschkin schrieb über ihn: „Pestel ist ein kluger Mensch im vollen Sinne dieses Wortes. Einer der originellsten Geister, die ich kenne.“

Im Jahre 1812 hatte Pestel tapfer gegen Napoleon gekämpft und war in der Schlacht von Borodino verwundet worden. Mit der russischen Armee hatte er an den ausländischen Feldzügen in den Jahren 1813 bis 1815 teilgenommen. Pestel war ein glühender Anhänger der republikanischen Staatsform und ein leidenschaftlicher Gegner der Selbstherrschaft und Leibeigenschaft.

Er hatte gewaltigen Einfluss unter seinen Kameraden und überzeugte sie von der Notwendigkeit organisierter und entscheidender Handlungen. Er arbeitete ein Programm der Umgestaltung Russlands aus und nannte es „Russische Wahrheit“. Pestel schlug vor, sämtliche Mitglieder der Zarenfamilie zu vernichten und eine „ungeteilte Republik“ mit einer starken Zentralgewalt zu errichten. Pestel trat für einen demokratischen Aufbau der Republik ein. Er verlangte gleiche Rechte und Freiheiten für alle Bürger und allgemeine Wahlen für die gesetzgebenden Organe der Republik. In der „Russischen Wahrheit“ wurde das Projekt der Bauernbefreiung mit Zuteilung von Grund und Boden und ohne irgendwelches Lösegeld aufgestellt. Pestel und seine Kameraden beabsichtigten, den Zaren zu töten und einen Umsturz mit Hilfe der unter ihrem Befehl stehenden Regimenter durchzuführen. Die breiten Volksmassen zum Aufstand aufzuwiegeln, fürchteten sie und wollten es auch nicht. Pestel gelang es nicht, den von ihm geplanten Militäraufstand durchzuführen. Am 13. Dezember 1825 wurde er auf Anzeige eines Verräters verhaftet und nach Petersburg gebracht.

Neben der „Südlichen Gesellschaft“ entstand im Jahre 1823 in der Ukraine noch eine geheime Gesellschaft unter der Bezeichnung „Gesellschaft der vereinigten Slawen“. Ihre Gründer waren Offiziere- die Brüder Borissow. Ihr gehörten nichtbegüterte Offiziere an. Im Sommer des Jahres 1825 nahmen die „Slawen“ Pestels Programm an und vereinigten sich mit der „Südlichen Gesellschaft“. Die Gesellschaft war hinsichtlich der Zusammensetzung und ihres Programms demokratischer und radikaler, obgleich auch sie adlig geblieben war.

Unabhängig von Pestel und seinen Anhängern handelten die Mitglieder der „Nördlichen Gesellschaft“. Ihr Haupt war der Gardeoffizier Nikita Murawjow. Er hatte den Entwurf der künftigen Verfassung Russlands ausgearbeitet. Im Gegensatz zu Pestel stellte Murawjow die Forderung nicht nach einer Republik, sondern einer Monarchie, beschränkt durch eine Volksversammlung. Die Leibeigenschaft sollte gemäß ihrem Programm abgestellt werden, der Grund und Boden jedoch in den Händen der Gutsbesitzer verbleiben. Die Bauern sollten nur zum Bauernhof gehörige Parzellen, Vieh und Inventar bekommen.

Innerhalb der „Nördlichen Gesellschaft“ gab es jedoch eine Gruppe entschiedener Revolutionäre, an deren Spitze der Poet Rylejew stand. Im Jahre 1823 begann Rylejew zusammen mit Sestushew die Zeitschrift „Der Polarstern“ herauszugeben. Rylejews revolutionäre Lieder und Gedichte waren von Freiheitsliebe und Hass gegen die Versklavung durchdrungen. Sie übten großen Einfluss auf die adlige Jugend aus. In seinen Gedichten rief Rylejew zum Sturz des Zarismus und zum Kampf für die Freiheit des Volkes auf.

Im November 1825 starb Alexander I. Kinder hatte er nicht. Thronfolger hätte eigentlich sein Bruder Konstantin sein müssen; er hatte aber noch zu Lebzeiten seines Bruders auf den Thron verzichtet, den nun sein anderer Bruder, Nikolaj, besteigen sollte. Jedoch war darüber nichts bekannt. Zunächst wurde dem Konstantin der Eid geleistet. Solange zwischen den Brüdern korrespondiert wurde und die Kuriere zwischen Petersburg und Warschau, wo Konstantin sich aufhielt, hin und her fuhren, herrschte im Staat tatsächlich ein Interregnum. In den höchsten kreisen trat Verwirrung ein. Die geheimen Gesellschaften wollten die sich ergebende Lage ausnutzen und einen Umsturz herbeiführen.

Zu diesem Zweck beschlossen sie, am Tage der Ablegung des Eides gegenüber dem neuen Zaren Nikolaj I., die Truppen auf den Senatsplatz zu führen und dort eine Konstitution zu verlangen.

Am Morgen des 14. Dezember 1825 marschierten die von den revolutionären Offizieren geführten Regimenter zum Senatsplatz. Im ganzen versammelten sich dort mehr als 3000 Soldaten und Matrosen. Die Truppen stellten sich rund um das Denkmal Peters I. auf, verharrten aber in Untätigkeit, da sie auf den Anschluss neuer Truppenteile warteten. Der Aufstand war nicht vorbereitet, und seine Führer zeigten keine Entschlossenheit. Fürst Sergej Trubezkoj, der zum Führer des Aufstandes bestimmt worden war, war nicht einmal auf dem Platz erschienen. Die Aufständischen, die keine Führung hatten, wagten nicht zum Angriff überzugehen und die Truppen anzugreifen, die auf seiten des Zaren blieben.

Um 12 Uhr mittags zog Zar Nikolaj I: die ihm ergebenen Truppen und Artillerie auf dem Platz zusammen. Gegen die Aufständischen wurden Kavallerieattacken geritten, doch wurden diese abgeschlagen. Dann wurde auf die aufständischen Truppen und die Arbeiter, die hier die Isaak-Kathedrale bauten und sich den Truppen angeschlossen hatten, Geschützfeuer eröffnet. Der Senatsplatz rötete sich von Blut und bedeckte sich mit den Leichen der Gefallenen. In der Nacht wurden in das Eis der Newa Löcher geschlagen, in die von den Polizisten nicht nur die Gefallenen, sondern auch die Verwundeten geworfen wurden.

 

Zwei Wochen später, am 29. Dezember 1825, begann der Aufstand des Tschernigower Regiments in der Ukraine. Der Aufstand wurde geführt von einem der Leiter der „Südlichen Gesellschaft“, von Sergej Murawjow-Apostol. Allein, ebenso wie in Petersburg, waren die Tschernigower nicht entschlossen zu Angriffshandlungen überzugehen.

Die Teilnehmer des Aufstandes in Petersburg und im Süden Russlands wurden verhaftet. Der Zar selbst spielte die Rolle eines Gendarmen und Untersuchungsrichters und verhörte die Verhafteten. Fünf der Hauptorganisatoren der Bewegung: Pestel, Murawjow-Apostol, Bestushew-Rjumin, Rylejew und Kachowskij, wurden gehängt. Viele Teilnehmer des Aufstandes wurden zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt.

Die Dekabristen P. I. Pestel, K.F. Rylejew, M.P. Bestushwew-Rjumin, S.I. Murawjow-Apostol und P.G. Kachowskij, die vom Zar Nikolaj I. gehängt wurden
Bild entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

Der Aufstand der Dekabristen (so wurden die Teilnehmer des Dezemberaufstandes des Jahres 1825 genannt) endete mit einem Misserfolg. Die adligen Revolutionäre standen dem Volk sehr fern, sie rechneten nicht auf eine Massenbewegung, sondern auf eine militärische Verschwörung, und erlitten deshalb eine Niederlage.

Doch die Bedeutung dieses revolutionären Aufstandes war groß. Er trug dazu bei, das Volk aufzuwecken und es zum revolutionären Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft zu erheben.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin:  Anna Michailowna Pankratowa

ORIGINAL-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947