Die Ausbreitung des Marxismus in Russland

Im Jahre 1872 erschien in Russland der erste Band des großen Werkes von Marx „Das Kapital“. In diesem Werk entdeckte Marx die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft und begründete die Notwendigkeit des Kampfes des Proletariats für den Sozialismus. Die Lehre von Marx konnte nicht sofort große eine große Verbreitung unter den Arbeitern finden. Die Ideen von Marx muss in ihrem Bewusstsein erst beigebracht werden. Mit der Propaganda der Ideen des Marxismus in Russland begannen gebildete Marxisten mit Plechanow an der Spitze sich zu beschäftigen.

Georgij Walentinowitsch Plechanow 1856 bis 1918
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Unter den Gelehrten und Politikern des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts nimmt Georgij Waltentinowitsch Plechanow (1856 bis 1918) eine der ersten Stellen ein. Er liebte sein Vaterland und entschloss sich, sein Leben dem Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse von ihren Bedrückern und Ausbeutern zu widmen. „Ich bin in Russland geboren“, schrieb Plechanow im Jahre 1895, „und liebe glühend mein Land, obgleich die russischen Gendarmen und ihre Gesinnungsgenossen mich einen Verräter nennen. Meine Kräfte habe ich dem russischen Volk geweiht. Aber gerade deshalb, weil ich Russland und das russische Volk liebe, sehe ich klarer als jene, die dem Wohle unseres Landes gleichgültig gegenüberstehen, wie sehr die Interessen der russischen Regierung den Interessen des russischen Volkes entgegenstehen.“

Seit Jünglingsjahren hatte sich Plechanow den Volkstümlern angeschlossen, aber bereits im Jahre 1879 trat er aus der Organisation „Boden und Freiheit“ aus, da er nicht mit dem Übergang der Volkstümler zur Taktik des individuellen Terrors einverstanden war. Im Jahre 1880 fuhr Plechanow, der vom Zarismus verfolgt wurde, ins Ausland, wo er sich mit den Führern der Arbeiterbewegung bekannt machte und eine Verbindung mit Engels anknüpfte. Gleichzeitig studierte er eifrig die Werke von Marx und Engels. Einen besonders großen Eindruck machte auf ihn „Das Kommunistische Manifest“. „Ich war begeistert von dem ‚Manifest‘ und beschloss sofort, es in die russische Sprache zu übersetzen“, schrieb Plechanow.

Im Herbst 1883 schuf er die erste russische marxistische Organisation – die Gruppe „Befreiung der Arbeit“. Diese Gruppe leistete eine große Arbeit bei der Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus in Russland. Durch Mitglieder dieser Gruppe wurden viele Werke von Marx und Engels in die russische Sprache übersetzt und herausgegeben. In seinen Briefen an Engels vom 30. Oktober 1894 schreib Plechanow: „Die Propaganda Ihrer Ideen und der Ideen von Marx betrachte ich als Aufgabe meines Lebens.“

In seinen ersten marxistischen Arbeiten „Sozialismus und politischer Kampf“ und „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bewies Plechanow, dass zusammen mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland auch die revolutionäre Arbeiterklasse wächst und dass sie sich zum Entscheidungskampf gegen die Selbstherrschaft vorbereiten muss.

Nachdem sich Engels mit Plechanows Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bekannt gemacht hatte, schrieb er in einem seiner Briefe, er sei stolz darauf, dass unter der russischen Jugend eine Partei besteht, die sich aufrichtig und ohne Vorbehalte zu den großen ökonomischen und historischen Theorien von Marx bekennt.

Eine große Rolle in der Vorbereitung zur Schaffung einer marxistischen sozialdemokratischen Partei in Russland spielten zwei Programmentwürfe der russischen Sozialdemokraten, die von der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ausgearbeitet worden waren. In diesen Programmentwürfen jedoch, wie auch in einigen anderen Arbeiten Plechanows, waren schwerwiegende Fehler enthalten. Plechanow war der Meinung, dass die Bauernschaft kein Verbündeter des Proletariats im Kampf gegen sie Selbstherrschaft sein könne, er berücksichtigte nicht, dass nur im Bündnis mit der Bauernschaft die Arbeiterklasse den Sieg über den Zarismus erringen kann. Zur gleichen Zeit hielt er die liberale Bourgeoisie für eine ernsthafte revolutionäre Kraft. Diese Fehler führten dazu, dass in der Folgezeit Plechanow Menschewik wurde und gegen Lenin und die Bolschewiki kämpfte.

Anfang der 1880er Jahre, unter dem Einfluss der fortschrittlichen revolutionären Arbeiter, begann die Arbeiterklasse mutiger für die Verteidigung ihrer Interessen aufzutreten. In den zehn Jahren von 1870 bis 1880 fanden mehr als 200 Streiks statt. Ein besonders großer Streik wurde im Jahre 1878 in der neuen Baumwollspinnerei in Petersburg durchgeführt. An diesem Streik nahm der Arbeiter Peter Mojsejenko teil, der später eine hervorragende Rolle bei dem Streik in der Morosowfabrik in Orchechowo-Sujewo im Jahre 1885 spielte.

Der Streik in der Morosowfabrik zeigte die Geschlossenheit und die kameradschaftliche Solidarität der Arbeiter. Er hatte bereits seine Organisatoren und Leiter. Einer von ihnen war der Weber Peter Anissimowitsch Mojsejenko. Er eben erst aus der Verbannung zurückgekehrt, wohin er als Mitglied des „Nordbundes russischer Arbeiter“ wegen Teilnahme an den Petersburger Streiks verschickt worden war. Gemeinsam mit den ortsansässigen Arbeitern Luka Iwanow und Wassilij Wolkow arbeitete Peter Mojsejenko für die Arbeiter ein Programm ihrer Forderungen aus. Dieses Programm wurde auf geheimen Versammlungen der Arbeitervertreter durchgesprochen und den Fabrikanten vorgelegt. Der Streik dauerte acht Tage und zeichnete sich durch große Hartnäckigkeit aus. Er wurde gebrochen, nachdem die Polizei sämtliche Führer und 600 aktive Teilnehmer am Streik verhaftet hatte. Mojsejenko, Luka Iwanow, Wassilij Wolkow und andere Arbeiter wurden dem Gericht übergeben. Vor Gericht wurden derartig ungeheuerliche Zustände in der Morosowfabrik festgestellt, dass selbst die für dieses Gericht besonders ausgewählten Geschworenen gezwungen waren, die Unschuld der Streikführer anzuerkennen.

Der Streik bei Morosow war der größte von allen vorhergegangen. Er bedeutete den Beginn einer Massenbewegung der Arbeiter. Die Spontanität der Streiks fing an, durch ihre organisierte Durchführung ersetzt zu werden. In den Forderungen der Streikenden ertönten nun nicht mehr das jammernde Flehen und Bitten, sondern die machtvollen Forderungen der neuen revolutionären Klasse, die begonnen hatte, sich ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusst zu werden.

Der Streik bei Morosow erschreckte den Zaren Alexander III. und seine Minister. Im Jahre 1886 wurde ein Gesetz über die Geldstrafen und die Lohnbücher erlassen. Nach diesem Gesetz sollten die Strafgelder nicht den Fabrikanten zugutekommen, sondern für die Bedürfnisse der Arbeiter selbst verwendet werden. Der Streik hatte dem Zarismus gezeigt, dass die Arbeiterklasse eine drohende Macht werden kann. Im Streik bei Morosow trat das Proletariat zum ersten Mal als fortschrittliche Kraft der revolutionären Bewegung auf.

 

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“