Nach der Niederlage der Pariser Kommune im Jahre 1871 fanden in Westeuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine großen revolutionären Aktionen statt. Die Erste Internationale (die Internationale Arbeiter-Assoziation) fiel faktisch auseinander. In den einzelnen kapitalistischen Ländern (Frankreich, Deutschland, England) wurden selbstständige Arbeiterparteien geschaffen. Im Jahre 1889 vereinigten sich die Vertreter der Arbeiterparteien und organisierten die Zweite Internationale. Jedoch nach dem Tod von Engels im Jahre 1895 verstärkten sich in den Parteien der Zweiten Internationale die Elemente, die Anhänger einer Verständigung mit der Bourgeoisie waren. Die Führer der Zweiten Internationale und die von ihnen geleiteten Parteien verzichteten auf den revolutionären Kampf: sie waren der Ansicht, dass die Arbeiter ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchsetzen können. Deshalb beharrten sie auf dem Weg der Reform, aber nicht der Revolution.
Vom Ende des 19. Jahrhunderts an verlagerte sich der Schwerpunkt des revolutionären Kampfes des Proletariats nach Russland. Die junge, aber sich schnell entwickelnde Arbeiterklasse Russlands begann den revolutionären Kampf gegen den Zarismus und gegen den Kapitalismus. Im Vergleich zu den Arbeitern in Westeuropa machte die russische Arbeiterklasse eine beschleunigte politische Erziehung durch. Unter den Verhältnissen des Zarismus verwandelten sich die Streiks schnell in Werkzeuge des politischen Kampfes des Proletariats, d.h. sie waren nicht nur gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die Selbstherrschaft gerichtet.
Den revolutionären Kampf des Proletariats leitete von Beginn der 1890er Jahre Wladimir Iljitsch Lenin.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1
Der künftige Führer des russischen und des Weltproletariats wurde am 10. (22.) April 1870 in Simbirsk (später Uljanowsk) geboren. Lenins Vater, Ilja Nikolajewitsch Uljanow, war Pädagoge. Er hatte große Achtung vor Tschernyschewskij und Dobroljubow und liebte besonders die Gedichte von Nekarassow. Die Liebe und Achtung gegenüber den revolutionären Demokraten übertrug Ilja Nikolajewitsch auch auf seine Kinder.
Die Familie Uljanow war groß und hielt zusammen. Der Vater erzog die Kinder zu wahrheitsliebenden, rechtschaffenen und arbeitsamen Menschen.
Lenins älterer Bruder Alexander war Revolutionär – „Narodowolez“. Im Jahre 1887 nahm er an dem Anschlag auf den Zaren Alexander III. teil, wurde verhaftet und hingerichtet.
Lenin hatte damals begriffen, dass für den Sieg der Revolution der Kampf einzelner Revolutionäre ungenügend, dass die Entwicklung der Massenbewegung der Werktätigen notwendig ist. „Nein, wir werden diesen Weg nicht beschreiten, nicht auf diesem Weg muss man gehen“, sagte Lenin nach der Hinrichtung seines Bruders.
Wladimir Iljitsch zeichnete sich von Kindheit an durch hervorragende Fähigkeiten aus. Er beendete erfolgreich- mit der Goldenen Medaille – das Gymnasium in Simbirsk und bezog im Jahre 1887 die Universität Kasan. Hier nahm der junge Lenin an den Studentenunruhen teil, wofür er anfangs verhaftet, später aber von der Universität ausgeschlossen und in das Dorf Kokuschkino verbannt wurde. Bei der Verhaftung entspann sich zwischen Lenin und dem Polizeioffizier folgendes Gespräch: „Wozu rebellieren Sie, junger Mann? Sie stehen vor einer Mauer.“- „Vor einer Mauer, ja, aber vor einer baufälligen, man braucht nur hineinzustoßen, da fällt sie zusammen“, antwortete ihm Lenin.
Nach einem Jahr wurde Lenin gestattet, sich wieder in Kasan niederzulassen. Hier nahm er an der Arbeit eines revolutionären Zirkels aktiven Anteil. Alle freie Zeit verbrachte Lenin hinter Büchern. Seine große Arbeitsfähigkeit, seine Beharrlichkeit und Diszipliniertheit bei der Arbeit erwarb sich Lenin schon in seinen Kinder- und Jugendjahren.
Im Jahre 1889 siedelte Wladimir Iljitsch nach Samara (später die Stadt Kujbyschew) über, wo er länger als vier Jahre lebte. Das waren Jahre des beharrlichen Lernens. Lenin, der sich auf den revolutionären Kampf vorbereitete, studierte gründlich die Arbeiten der Begründer des Marxismus. „Das Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels übersetzte Lenin aus der deutschen in die russische Sprache, und es wurde dann in Lenins Übersetzung in den Zirkeln der Samarer revolutionären Jugend studiert. In Samara organisierte Lenin den ersten Marxistenzirkel, und dort bildete sich endgültig seine marxistisch-revolutionäre Weltanschauung. Auf der Grundlage eines sorgfältigen Studiums statistischen Materials schrieb Lenin seine erste wissenschaftliche Arbeit über die Bauernschaft in Russland. Aber Samara, wo es fast kein Proletariat gab, konnte keinen Spielraum für eine revolutionäre Betätigung bieten. Daher siedelte der 23jährige Lenin im Jahre 1893 nach der Hauptstadt Russlands, nach Petersburg, über, welches zugleich das größte proletarische Zentrum war.
Unter den Petersburger Marxisten nahm Lenin sofort eine führende Stellung ein. „Wir haben ihn einstimmig, widerspruchslos und stillschweigend als unseren Führer anerkannt“, so erzählt einer der Petersburger Marxisten. Durch sein gewaltiges Wissen zeichnete sich Lenin im Kreise aller jungen Marxisten aus. Aber besonders gewann er sich die Hörer des Zirkels durch eine tiefe Überzeugung und den glühenden Glauben an den Sieg der Arbeiterklasse. „Wir sahen, wir fühlten stets eine ungewöhnliche Kraft der Überzeugungen, einen tiefen Ideenreichtum in Ihm“. Erinnerte sich einer der Teilnehmer seines Zirkels. „Wir sahen, dass er in allen seinen Überlegungen, was immer sie auch betrafen, nur von einem Gedanken ausging, von dem Gedanken des Kampfes der russischen Arbeiterklasse für die Revolution, für den Sozialismus; und dieser Idee gab er sich ganz hin, für Ihn gab es keine anderen Interessen außer jenen, die damit verbunden waren, kein anderes Leben außer jenem, das er völlig dieser Idee gewidmet hatte.“
Lenin trat entschlossen gegen die liberalen Volkstümmler auf, deren Ideen zu jener Zeit weit verbreitet waren. Er schrieb damals sein erstes großes theoretisches Werk: „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in dem er die Anschauungen der Volkstümler einer vernichtenden Kritik unterzog. In dieser Broschüre sagte Lenin voraus, dass sich gerade das Proletariat an die Spitze des Kampfes um den Sturz der Selbstherrschaft, um die Liquidierung der Leibeigenschaft in Russland und um den Sieg der sozialistischen Revolution stellen wird.
Im Herbst 1893 stellte Lenin eine enge Verbindung mit den fortschrittlichen Petersburger Arbeitern her. Die Arbeiterbewegung tat zu jener Zeit einen neuen Schritt vorwärts.
Der industrielle Aufschwung der 1890er Jahre führte ein zahlenmäßiges Anwachsen der Großunternehmungen und der Arbeiterschaft herbei. Die Streikbewegung ergriff breitere Schichten der Arbeiter. Von 1895 bis 1899 streikten nicht weniger als 221 000 Arbeiter.
Zu jener Periode entstand in Petersburg unter Lenins Führung die revolutionäre Arbeiterorganisation unter der Bezeichnung „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Dieser „Kampfbund“ stellte, wie Lenin bemerkte, den ersten bedeutsamen Keim einer revolutionären Partei, die sich auf die Arbeiterbewegung stützt, dar.
Ende 1894 warf Lenin die Frage auf, dass es notwendig sei, von der Arbeit in den Zirkeln (von der Propaganda) zu einer umfassenderen Tätigkeit unter den Arbeitern (zur Agitation) überzugehen. Ungeachtet des Widerstandes eines Teiles der Intelligenzler wurde Lenins Vorschlag gutgeheißen.
Der „Kampfbund“ begann im Zusammenhang mit den Streiks in den einzelnen Betrieben Agitationsflugblätter herauszugeben.
Im Frühjahr 1895 führ Lenin ins Ausland, wo er mit Plechanow zusammentraf. Nach seiner Rückkehr nach Russland stellte die Polizei ihn und andere Mitglieder des „Kampfbundes“ unter verschärfte Beobachtung. In der Nacht vom 8. Zum 9. Dezember 1895 wurden bei vielen Mitgliedern des „Kampfbundes“ Haussuchungen durchgeführt, einige wurden verhaftet, darunter Lenin. Aber selbst aus dem Gefängnis setzte er die Leitung des „Kampfbundes“ fort. Von Ende 1895 an organisierte der „Kampfbund“ Streiks und leitete sie. Im Jahre 1896 wurde unter der Leitung des „Kampfbundes“ ein Streik organisiert, der 30 000 Petersburger Weber erfasste. Während des Streiks gab er „Kampfbund“ 13 Flugblätter heraus. Im Gefängnis schrieb Lenin eine Broschüre über die Streiks. Unter dem Einfluss der revolutionären Marxisten lernten die Arbeiter die politische Lage und die Aufgaben der Arbeiterklasse begreifen und den Kampf für ihre Interessen führen. Im Jahre 1897 wurde Lenin für drei Jahre nach dem Dorf Schuschenskoje im Gouvernement Jenissejsk verbannt. Im Gefängnis und in der Verbannung arbeitete er an dem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. In ihm zeigte er, dass Russland auf dem kapitalistischen Weg fortschreitet und dass der Kapitalismus eine neue revolutionäre Macht – das Proletariat- erzeuge.
In dem von ihm verfassten Programmentwurf der Partei begründete er die Notwendigkeit des Kampfes der russischen Arbeiter für den demokratischen Aufbau des gesamten Lebens in Russland, der ihnen einen weiteren Kampf für den Sozialismus erleichtern würde. Diese Vereinigung demokratischer und sozialistischer Aufgaben im Programm der Arbeiterpartei fand ihren Widerhall auch in der Bezeichnung: „Sozialdemokratische Partei“. Der Versuch eine Partei zu gründen, war schon unternommen worden, als Lenin sich noch in der Verbannung befand. Im Jahre 1898 fand in Minsk die erste Tagung der Sozialdemokraten statt. Auf dieser Tagung wurde die Bildung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verkündet. Aber nach der Tagung wurden die Mitglieder des Zentralkomitees und die Mehrzahl der Teilnehmer am Parteitag verhaftet.
Jedoch konnten keinerlei Verfolgungen die sich schnell entwickelnde revolutionäre Bewegung in Russland aufhalten.
Lenin wies darauf hin, dass der Kapitalismus in Russland sich nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Breite entwickele. Dies bedeutete seine Verbreitung in neue Gebiete. Nach der Reform von 1861 wurde auch Transkaukasien in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung mit hineingezogen. Dort entstanden die ersten Fabriken und Werke. Die Erdölstadt Baku, ein großes Industrie- und Arbeiterzentrum Transkaukasiens, fing an, sich schnell zu entwickeln. Eine wichtige ökonomische Bedeutung für den gesamten Kaukasus hatte der Bau der transkaukasischen Eisenbahn. Im Jahre 1871 wurde der Eisenbahnverkehr zwischen Poti und Tiflis eröffnet.
In Transkaukasien begann sich eine eigene Arbeiterklasse zu bilden. Eine große Rolle in der revolutionären Bewegung spielten die Eisenbahner. Vom Jahre 1887 an begannen die Arbeiter der Tifliser Eisenbahnwerkstätten als Anführer des Kampfes aufzutreten. Unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung fingen auch die georgischen Bauern an, sich zum Kampf zu erheben. Der Führer und Leiter der Arbeiter und Bauern in Georgien und im gesamten Transkaukasien war von Ende der 1890er Jahre an J.W. Stalin.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1
Josef Wissarionnowitsch Stalin (Dshugaschwili) wurde am 9.(21.) Dezember 1879 in der Stadt Gori geboren. Sein Vater war Arbeiter in der Schuhfabrik in Tiflis, seine Mutter arbeitete als Tagelöhnerin.
Im Jahre 1894 absolvierte J.W. Stalin die geistliche Schule in Gori und trat in das geistliche Seminar in Tiflis ein. In dem Seminar verfolgten und erstickten viele Erzieher und Lehrer alles Lebendige. Stalin schrieb später darüber: „Ihre Hauptmethode ist die Bespitzelung, das Sicheinschleichen in die Seele, Verhöhnung. Was kann daran Positives sein? Zum Beispiel Spitzelei im Pensionat: um neun Uhr das Glockenzeichen zum Tee, wir gehen ins Esszimmer, und als wir dann wieder in unsere Zimmer kommen, stellt sich heraus, dass man während dieser Zeit eine Haussuchung vorgenommen und alle unsere Kästen mit den Sachen durchwühlt hat… Aus Protest gegen dieses System der Verhöhnung und die jesuitischen Methoden, die im Seminar herrschten, war ich bereit, Revolutionär zu werden und wurde tatsächlich Revolutionär, Anhänger des Marxismus als einer wirklich revolutionären Lehre.“
Vom 15. Lebensjahr an betätigte sich J.W. Stalin revolutionär, nachdem er sich mit der illegalen Gruppe der russischen Marxisten in Tiflis verbunden hatte. Im Seminar arbeitete er viel an seiner marxistischen Schulung. Bald begann J.W. Stalin selbst illegale marxistische Zirkel zu leiten, in denen die Werke von Marx und Engels, von Belinskij und Tschernyschewskij, von Pissarew und Plechanow studiert wurden. Einst wurde mit großer Mühe der erste Band des „Kapitals“ erworben, mit der Hand abgeschrieben und an Hand der handschriftlichen Kopie im Zirkel studiert.
Im Jahre 1898 machte sich Stalin mit Lenins Werken bekannt. Schon damals entstand in ihm der heiße Wunsch, mit dem Führer der russischen Arbeiterklasse persönlich bekannt zu werden. „Ich muss ihn sehen“, sagte er zu seinen Genossen.
Im Jahre 1899 wurde J.W. Stalin aus dem geistlichen Seminar wegen marxistischer Propaganda ausgeschlossen. Von dieser Zeit an wurde er Berufsrevolutionär und widmete alle seine Kräfte dem Kampf für die Sache der Arbeiterklasse.
Die Entwicklung des Kapitalismus und das Anwachsen der Arbeiterklasse in Georgien führte zur Entstehung der ersten marxistischen georgischen Organisationen. Den Marxismus in Transkaukasien begannen als erste die russischen Sozialdemokraten, die von der zaristischen Regierung dahin verschickt worden waren, zu verbreiten. Im Jahre 1893 war in Georgien die erste marxistischen Organisation „Messame-Dassi“ (die 3. Gruppe) entstanden. Ihr gehörten sowohl Anhänger eines entschlossenen Kampfes gegen den Zarismus als auch Gegner eines solchen offenen Kampfes der Arbeiterklasse an. Im Jahre 1898 schloss sich die revolutionäre Minderheit dieser Gruppe unter der Führung von Alexander Zulukidse, Lado Kezchoweli und Josef Stalin zusammen, welche von der engen Propaganda innerhalb der Zirkel zur Massenagitation und zum politischen Kampf gegen die Selbstherrschaft überging. Die Organisation spaltete sich. Die revolutionäre Minderheit, geführt von J.W. Stalin, bildete eine neue marxistische Gruppe, die die Keimzelle der revolutionären sozialdemokratischen (der künftigen bolschewistischen) Organisation in Transkaukasien war.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
