Absichten reaktionärer Kräfte zum Besuch in Kassel

Ein historisches Ereignis nach einem Dokument des MfS wiedergegeben.
Pläne und Maßnahmen reaktionärer Kräfte zum Treffen des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, mit dem Bundeskanzler der BRD Willy Brandt am 21. Mai in Kassel.
Anlässlich des Treffens des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, mit dem Bundeskanzler der BRD, Willy Brandt, am 21.05.1970 in Kassel planten rechte, nationalistische und revanchistische sowie linksradikale, anarchistische Kreise eine Anzahl gegen die DDR und gegen die DDR-Delegation und Willi Stoph persönlich gerichtete Aktionen.
Nach dem Treffen der Regierungschefs der BRD, Willy Brandt, und der DDR, Willi Stoph, zu einem ersten Gipfeltreffen in Erfurt, fand am 21.05.1970 in Kassel ein Folgetreffen statt. Diese Begegnungen waren Ausdruck der „Neuen Ostpolitik“ der Bundesregierung. Konkrete Beschlüsse brachten die Treffen nicht. In Reaktion auf diese Situation schlug Willi Stoph eine „Denkpause“ und die Aussetzung weiterer Gespräche vor. Erst im November 1970 wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen. (Im Nachhinein kann man sagen, dass diese Treffen der erste „Sargnagel“ für die DDR waren. Doch damals schöpfte man in der BRD und der DDR Hoffnungen auf Frieden und Verständigung.P.R.)
Obwohl einzuschätzen ist, dass eine Vielzahl der geplanten Vorhaben nicht umsetzbar waren, wurden unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der DDR-Delegation alle Hinweise auf mögliche Provokationen, Störmanöver usw. ernstgenommen. In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass internen Informationen (des MfS P.R.) zufolge Führungskräfte der westdeutschen Polizei teilweise stärker auf die geplanten Aktionen progressiver Organisationen sowie auf die erwarteten Auseinandersetzungen dieser Organisationen mit reaktionären Kräften orientierten als auf die Absicherung der Verhandlungsdelegation und des Verhandlungsortes.
Nachstehend eine Übersicht über die dem MfS in diesem Zusammenhang intern offiziell bekannt gewordenen feindlichen Plänen und Absichten:
Der Schwerpunkt der geplanten feindlichen Maßnahmen lag im Raum Kassel, wo besonders am 21.05. 1970 bzw. bereits am Vorabend des Verhandlungstages sogenannte Protestdemonstrationen, Hetzkundgebungen und andere Provokationen stattfinden sollten.
Im Vorfeld und während des Besuches von Willi Stoph kam es im Raum Kassel zu mehreren großen und zum Teil auch gewaltsamen Protesten, die von verschiedenen Gruppen aus dem konservativen und rechtsradikalen Lager organisiert wurden, sowie zu Gegendemonstrationen aus dem linken Spektrum.
Als unmittelbare Initiatoren und Veranstalter sollten insbesondere die NPD, die Junge Union und revanchistische Organisationen in Erscheinung treten. Darüber hinaus wurden dem MfS zum damaligen Zeitpunkt folgende Einzelheiten bekannt:
In der „National-Zeitung“, Ausgabe Nr. 19 vom 08.05.1970, wurden Leserstimmen veröffentlicht, die auffordern, „unter Führung der CDU/CSU, der Leiter der Vertriebenenverbände“, des „Deutschen Soldatenbundes“ und „aller freiheitlich Gesinnten“ in „Massen“ nach Kassel zu kommen.
Die „National-Zeitung“ war eine zwischen 1950 und 2019 erschienene rechtsradikale Wochenzeitung.
Der Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Kyffhäuserbund war bis 1945 Dachverband der Kriegervereine, wurde aufgrund seiner Nähe zum Nazi-Regime bei Kriegsende verboten und 1952 in der BRD als Deutscher Soldatenbund (Kyffhäuserbund) wiedergegründet.
Der damalige NPD-Vorsitzende von Tadden erklärte offiziell demagogisch, dass am Tage des Treffens selbst die NPD in Kassel keine Aktionen veranstalten werde. Die NPD wolle jedoch auf einer Kundgebung in Kassel am Abend des 20.05.1970 „gegen die Anerkennung der deutschen Teilung und für das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung“ eintreten. Auf einer Hetzkundgebung wollte von Tadden selbst sprechen. Nach inoffiziellen Hinweisen plante die NPD außer der Kundgebung am Abend des 20.05.1970 eine Demonstration in Kassel unter der Teilnahme von Mitgliedern aus dem Bundesgebiet. Nach internen Hinweisen wollte die NPD ihren sogenannten Ordnungsdienst neu organisieren und in Kassel einsetzen. Vorbereitungen wären im Gange.
Adolf von Tadden war ein rechtsextremer Politiker, 1939-1945 Kriegsdienst, 1945/46 Haft in Polen mit anschließender Flucht nach Deutschland, 1947 Eintritt in die rechtsextreme Deutsche Rechtspartei, 1950 Mitbegründer der Deutschen Reichspartei, 1961-64 deren Vorsitzender, 1964 Mitbegründer der NPD, 1967 – 71 deren Vorsitzender, 1964-72 Herausgeber des NPD-Parteiorgans „Deutsche Nachrichten“, ab 1975 Chefredakteur der „Deutschen Wochenzeitung“.
Eine „lautlose Demonstration“ in Form einer „Schweigefahrt“ mit dem PKW wollten – wie intern bekannt wurde- die NPD-Landesverbände Hessen und Bayern durchführen. Die Fahrzeuge sollten mit Hetzlosungen versehen werden („Kein freies Geleit für Mörder“, „Freiheit für unsere Brüder“, „Raus mit Stoph“ usw.). Sollte diese Demonstration nicht genehmigt werden, wollten sich diese NPD-Gruppen unter Umständen Demonstrationen der CDU7CSU anschließen, ohne sich äußerlich zu erkennen zu geben.
Rechtsextremistische Kreise, besonders aus der NPD, haben in Flugblättern zu einer „Gesamtdeutschen Aktion“ Willi Stoph in Kassel aufgerufen. Es wird gefordert, unter „Freunden und Bekannten“ für eine Demonstration“ am 21.05.1970 zu werben und an vorgesehene Adressen namentlich mitzuteilen, wer daran teilnimmt. Weiterhin wird in dem Flugblatt aufgefordert, „Vorschläge für Aktionen in Kassel“ zu machen.
Die Junge Union plante am Vorabend der Begegnung in Kassel einen „Schweigemarsch“. In dem Zug-es wurden etwa 3 000 Mitglieder erwartet- sollten 535 Fackeln getragen werden. (Die Zahl würde den Toten „der Mauer und Demarkationslinie“ entsprechen.) Die Initiative für diese Provokation ging von den Landesverbänden Hessen und Westberlin aus, die dazu ein Aktionskomitee „Wir gehen nach Kassel“ unter Vorsitz von Wohlrabe (MdB/CDU) geründet und alle Landesverbände der Jungen Union in Westdeutschland aufgefordert haben, an der Demonstration teilzunehmen. In Westberlin sollten ca. 500 Mitglieder für die Teilnahme gewonnen werden. Etwa 1 200 Anmeldungen aus Westdeutschland und Westberlin würden bereits vorliegen. Für die gesamte Aktion stellten die CDU und der Bundesvorstand der Jungen Union 350 000 DM zur Verfügung.
Jürgen Wohlrabe, Jahrgang 1936, CDU-Politiker, ab 1958 in der Studentenbewegung der CDU, 1979-95 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Westberlin, 1989-91 Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses.
Der neue SPD-Informationsdienst „intern“ berichtete in seiner ersten Nummer vom 10.05.1970, dass der Bundesvorstand der CDU erwäge, in Kassel durch eine Plakataktion „Akzente zu setzen“. Auf den Plakaten soll der Bonner Regierung „Verzichtsausverkaufspolitik“ vorgeworfen werden.
Der Informationsdienst „intern“ wurde zwischen 1970 und 2017 als Nachfolger der „bonner depeschen“ vom Bundesvorstand der SPD herausgegeben.
Auf einer Bundesvorstandssitzung des „Freundeskreises der CSU“ seien nach Mitteilung einer zuverlässigen Quelle folgende Maßnahmen festgelegt worden:
- Blockierung der Fahrstrecke vom Bahnhof Wilhelmshöhe bis zum Tagungsort am 21.05.1970 durch Organisierung von Sitzstreiks;
- Aufstellung von schwarzen Kreuzen und Hetzplakaten (Darstellung der Sicherungsanlagen der Staatsgrenze der DDR) sowie Organisierung von Sprechchören;
- Druck von 10 000 Hetzflugblättern, in denen gegen Willi Stoph gehetzt werden soll.
Die Kirche hatte die Absicht, in Kassel auf einem größeren Platz, zusammen mit der Inneren Mission ein großes Zelt aufzustellen und darin Veranstaltungen durchzuführen. (Derselbe Standort für die Errichtung eines Zeltes sei der DKP abgelehnt worden.)
Der „Bund der Vertriebenen“ wollte am 21.05.1970 demonstrieren. Einen entsprechenden Antrag auf Genehmigung habe er an den Kasseler Magistrat gestellt. Weitere Einzelheiten lagen zum damaligen Zeitpunkt nicht vor.
Der Bund der vertriebenen Deutschen (BVD, seit 1954) wurde 1949 von Linus Kather als Zentralverband der vertriebenen Deutschen gegründet. Im Jahre 1957 schloss sich der BVD mit dem Verband der Landsmannschaften zum Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände zusammen.
Die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ (VOS) hatte ebenfalls die Absicht, am 21.05.1970 in Kassel zu demonstrieren. Es sollte ein Demonstrationszug von etwa 200 Mitgliedern organisiert werden, die in Häftlingskleidung auftreten sollten.
Die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ wurde 1950 in Westberlin gegründet. Sie betreute vormals in sowjetischen Lagern und Haftanstalten inhaftierte sowie kriegsgefangene Deutsche und setzte sich für die Aufarbeitung der diktatorischen Herrschaft primär in der DDR ein. (Ach das kennen wir ja. Die Opferverbände – heute gehören sie zu den Siegern der Geschichte. P.R.)
Der Westberliner Landesvorstand der „Vereinigung 17. Juni 1953“ hatte die westdeutschen Landesverbände aufgerufen, am 21.05.1970 nach Kassel zu kommen. Das Ziel bestand darin, etwa 2000 Mitglieder für Kassel zu mobilisieren. Es sollte erreicht werden, dass die Mitglieder der Vereinigung aus „Protest“ die Anfahrtsstrecke zum Tagungsort blockieren. Weiterhin sollten Lautsprecherwagen eingesetzt werden. Darüber hinaus wurde eine Flugblattaktion vorbereitet.
Aus dem „Komitee 17. Juni“, das aus Aktivisten des „Aufstandes“, die sich durch Flucht in den Westen ihrer Verantwortung entzogen haben, hervorgegangener, im August 1957 gegründeter Verein, der sich besonders nach dem 13.08.1961 antikommunistischer Propaganda, der Ablehnung von Verständigungs- und Entspannungsbemühungen westlicher Politiker und militanter Übergriffe auf Funktionäre und Büros der SEW oder Repräsentanten der DDR und UdSSR widmete.
Außer den bisher genannte Aktionen der von rechten Kräften entfachten Atmosphäre der Morddrohung hatten Personen aus Westdeutschland an Willi Stoph Drohbriefe gerichtet. So hatte jemand aus Mannheim Willi Stoph angedroht, er werde „auf dem Boden von Kassel von Scharfschützen abgeschossen“.
Strafantrag gegen Willi Stoph haben außer Gerhard Frey (Herausgeber der „National-Zeitung“) folgende Personen gestellt:
- Pöhlmann (stellv. NPD-Bundesvorsitzender und NPD-Fraktionsvorsitzender im bayrischen Landtag)
- Heinze (NPD-Abgeordneter aus Augsburg)
- Kuhnt (Fraktionsvorsitzender der NPD vom Landtag Baden-Württemberg)
- Stöckicht (stellvertretender NPD-Fraktionsvorsitzender vom Landtag Baden-Württemberg)
- Und noch Einer aus Starnberg/Bayern
Wie eine vertrauenswürdige Quelle berichtete, hatten auf dem Landesparteitag der NPD von Nordrhein-Westfalen am 25. und 26.04.1970 einzelne Delegierte Drohungen gegen Willi Stoph geäußert. So erklärte das 1968 im Zusammenhang mit einem bewaffneten Überfall auf das DKP-Büro in Bonn bekanntgewordene NPD-Mitglied Hengst, Bernd, es sei für ihn „Ehrensache“ nach Kassel zu reisen, denn er wolle Stoph „persönlich ohrfeigen“.
Am 02.10.1968 verübte der Rechtsextremist Bernd Hengst einen bewaffneten Überfall auf ein DKP-Büro in Bonn.
Bernd Hengst Jahrgang 1943, NPD-Politiker, 1967/68 bis zu seiner Verhaftung am 13.02.1971 führender Kopf der „Wehrsportgruppe Hengst“, einer rechtsterroristischen Vereinigung, die Anschläge plante und verübte.
Das Mitglied der Gewerkschaftsorganisation „Christlicher Metallarbeiterverband“ im Volkswagenwerk Baunatal bei Kassel, äußerte nach offizieller Darstellung der DPK: „Wenn es schon keine Handhabe gibt, den Stoph zu verhaften, so wird sich ein deutscher Mann finden, der hinter dem Zielfernrohr den Finger krumm macht.“
Gemeint ist die 1899 geründete „Christliche Gewerkschaft Metall“, die zum Christlichen Gewerkschaftsbund gehört.
Es lagen Informationen darüber vor, dass neben rechtsextremistischen Kräften auch linksradikale, anarchistische Kreise um die „Internationale Arbeiterkorrespondenz“ in Frankfurt/Main versuchen unter den Funktionären des DGB und der SPD Stimmung zu machen für Parolen, wie „Zwingt Brandt und Stoph am 21. Mai Farbe zu bekennen“.
„Internationale Arbeiterkorrespondenz“ ist der Name einer trotzkistischen Zeitschrift, die von 1965 bis 1981 erschien.
Auch die „Kommunistische Partei Marxisten-Leninisten“ trat gegen das geplante Treffen in Kassel auf. Eine ihrer Losungen lautete: „Stoph und Brandt: Verräter der deutschen Arbeiterklasse“. Mit solchen Losungen planten die sogenannten Marxisten-Leninisten sowie Trotzkisten in Kassel aktiv zu werden (nähere Einzelheiten waren zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt).
Die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten war eine westdeutsche kommunistische Kleinpartei, die 1968 in Hamburg gegründet wurde und sich zunächst an das maoistische China, später an Albanien anlehnte. Sie ging 1986 in der Vereinigten Sozialistischen Partei auf. (Das war eine der damaligen K-Gruppen, aus denen später Politikerinnen und Politiker der SPD und der GRÜNEN hervorgegangen sind. P.R.)
Nach einer internen, nicht bestätigten Information sollten die Kubaner Jorge Fraga, Regisseur aus Havanna, und Alfredo Guevara, Präsident des ICAIC (Kubanisches Institut für Filmkunst und Filmindustrie, gegründet 1959, größte staatliche Filmgesellschaft Kubas), anlässlich der Dokumentar- und Kurzfilmwoche (11.-18.04.1970 in Oberhausen) zum Ausdruck gebracht haben, dass sie es begrüßen würden, wenn auf Stoph geschossen würde. Die Kubaner erklärten, die „Linken“ wären klug, wenn sie einen solchen Anschlage inszenierten, da dann die wirklichen Zustände in der BRD zur Oberfläche kämen. (Eigenartige Logik- P.R.)
Geplante Störmaßnahmen und Hetzkundgebungen, die über den Raum Kassel hinausgehen, wurden seitens der NPD nicht bekannt. Im Einzelnen handelt es sich um
- Abbrennen von „Mahnfeuern“ entlang der Staatsgrenze zur DDR am Vorabend des Treffens. Dazu will die NPD die Landsmannschaften und andere revanchistische Organisationen mobilisieren.
- Durchführung von Hetzkundgebungen in einigen-zum damaligen Zeitpunkt unbekannten- westdeutschen Städten.
- Verteilung von Hetzflugblättern in Westdeutschland.
Vom MfS wurden die notwenigen Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der feindlichen Pläne, Absichten und Maßnahmen eingeleitet.
Nachbemerkungen von Petra Reichel
Dass damals in der BRD im Vorfeld eines Staatsbesuchs nicht die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen geplant und durchgeführt wurden, ist aus heutiger Sicht verwunderlich.
Die „Hau-drauf“- und „Hau-Ruck“- Methoden gegen die DDR hatten keinen Erfolg. Allerdings hatten die damals Verantwortlichen der DDR übersehen, dass die indirekte Strategie, die DDR von innen zu erodieren, auf lange Zeit Erfolg hatte.
Siehe Egon Bahr und die Tutzinger Rede von Egon Bahr und den Gastbeitrag von Karl-Heinz Schulze zum Brandt-Besuch in der DDR 1970 und MfS-Dokument zum Brandt-Besuch von 1970.
Dokument nur noch als Abschrift erhalten. Zum Original-Dokument ist nur noch die 1. Seite als Faksimile vorhanden.
entnommen aus dem Bundesarchiv – Stasi-Unterlagen-Archiv





