Die großen russischen Aufklärer

Die bürgerliche Revolution in Europa und die Bauernaufstände im Lande stellten die fortschrittlichen Menschen Russlands vor die unvermeidliche Frage: „Was hat Russland zu erwarten? Welchen Weg soll es beschreiten, um eine gebührende Stellung in Europa einzunehmen?“

Das Werk Radischtschews fortsetzend, waren die Dekabristen als erst zum offenen Kampf gegen den Zarismus angetreten und hatten eine neue junge Generation von Revolutionären, mit Herzen und Belinskij an der Spitze, zum Kampfe aufgerüttelt.

Alexander Iwanowitsch Herzen 1812 bis 1870
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

Alexander Iwanowitsch Herzen wurde im Jahre 1812 in einer adligen Familie geboren und unter dem ideellen Einfluss Radischtschews, der Dekabristen und der Aufklärungsideen der französischen Revolution erzogen. Schon in früher Jugend erwies er der revolutionären Heldentat der Dekabristen seine Huldigung. „Die Hinrichtung Pestels und seiner Kameraden störte endgültig den Schlaf meiner Seele“, schrieb Herzen selbst darüber.

Nachdem Herzen die Universität von Moskau bezogen hatte, stellte er sich in den Mittelpunkt des Zirkels der revolutionären Jugend. Die Aufgabe seines Lebens und das Programm des von ihm organisierten Zirkels umriss Herzen mit folgenden Worten: „Die bestehende Achse, um die unser Leben kreiste, war unsere Einstellung gegenüber dem russischen Volke, der Glaube an das Volk, die Liebe zu ihm und der Wunsch, wirksam an seinem Schicksal teilzunehmen.“

Die Mitglieder von Herzens Zirkel hielten sich für „die Nachkommen der Dekabristen“ und führten den Kampf gegen die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft weiter.

Wegen Propaganda revolutionärer Ideen wurde Herzen verhaftet.

Im Jahre 1847 war er gezwungen, Russland zu verlassen, um den Kampf gegen die Leibeigenschaft außerhalb der Grenzen Russlands fortzusetzen.

Die zaristische Regierung erklärte Herzen zum lebenslänglich Exilierten.

Im Jahre 1848 nahm Herzen am revolutionären Kampf in Europa teil und war bitter enttäuscht über die europäische, besonders die deutsche Bourgeoisie, die den revolutionären Kampf aufgegeben und den Weg des Paktierens mit den Feudalen beschritten hatte.

Im Jahre 1853 gründete Herzen in London die „Freie russische Druckerei“ und gab die Zeitschrift „Der Polarstern“ heraus. Den Umschlag der Zeitschrift schmückten die Bildnisse der hingerichteten Dekabristen. Der Titel „Polarstern“ ließ erkennen, das Herzen das Werk der Dekabristen fortsetzte. Von 1857 bis 1867 ab Herzen im Ausland die berühmte Zeitschrift „Die Glocke“ heraus.

Unter der Devise „Ich rufe die Lebendigen“ rief er alle fortschrittlich und rechtlich denkenden Menschen Russlands zum Kampf gegen die Selbstherrschaft und Leibeigenschaft auf. Herzen forderte die Befreiung der Bauern unter Zuteilung von Land, die Errichtung einer demokratischen Macht und die völlige Vernichtung aller Arten von Leibeigenschaft. Herzen hoffte, dass Russland die bürgerliche Gesellschaftsordnung vermeiden und zum Sozialismus gelangen würde, indem es die Bauerngemeinde als Keimzelle der sozialistischen Gesellschaft benutze. Zeitweise wurde Herzen schwankend, sprach nicht von einer Revolution, sondern von einer Reform, aber diese Schwankungen waren vorübergehend und nicht von langer Dauer. Herzen war und blieb stets revolutionärer Kämpfer gegen die Selbstherrschaft.

In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts spielten nicht die Adligen, sondern die Rasnotschienzy (russ: „Leute aus verschiedenen Ständen“) in der Freiheitsbewegung Russlands die Hauptrolle. Es waren dies Leute aus verschiedenen Ständen, hervorgegangen aus verschiedenen sozialen Gruppen: aus dem Kleinbürgertum, der Geistlichkeit, der Kaufmannschaft, aus dem Beamtentum und dem Kleinadel. Die Revolutionäre aus den Reihen der Rasnotschienzy standen dem Volk näher als die adligen Revolutionäre.

Wissarion Grigorjewitsch Belinskij 1811 bia 1848
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

Der erste revolutionäre Rasnotschienez war der große russische Kritiker Wissarion Grigorjewitsch Belinskij (1811 bis 1848), der von seinen Freunden wegen seines leidenschaftlichen Dranges nach Wahrheit, wegen seiner Aufrichtigkeit und wegen seines feurigen Charakters „der unbezähmbare Wissarion“ genannt wurde.

Sohn eines Marinearztes, kannte Belinskij ein mühe- und entbehrungsvolles Leben seit seiner Kindheit und lernte schon sehr früh die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft hassen. Um Belinskij und Herzen bildete sich ein Zirkel, für den die Bezeichnung „die Westler“ geprägt wurde. Die Mitglieder dieses Zirkels kritisierten die leibeigenschaftliche Ordnung scharf und verfochten den Standpunkt, dass europäische Zivilisation für Russland notwendig sei.

Belinskij war der Begründer der russischen literarischen Kritik. Ungeachtet der wütenden Zensur legte er in geschickter Weise in den der Zensur unterliegenden Artikeln sein fortschrittlichen Befreiungsideen dar.

Belinskij, der das russische Volk mit heißem Herzen liebte, geißelte alle jene, die es als eine „rückständige Rasse“ hinzustellen versuchten. „Wir werden sowohl Dichter, wie auch Philosophen sein“, schrieb Belinskij im festen Glauben an die Zukunft des russischen Volkes, „ein künstlerisches, ein gelehrtes, ein militärisches, ein industrielles, ein händlerisches, ein soziales Volk zu sein.“

Prophetisch schrieb er, indem er von einem neuen, glücklichen Leben des russischen Volkes und der ganzen Menschheit träumte: „Wir beneiden unsere Enkel und Urenkel, denen beschieden ist, dass Russland des Jahres 1940 zu sehen, wie es an der Spitze der gebildeten Welt stehen, der Wissenschaft und der Kunst Gesetze geben und die Achtung der ganzen aufgeklärten Menschheit empfangen wird.“

Belinskij starb im Jahre 1848 in der Blüte seines literarischen Talentes, aber körperlich durch Entbehrungen und Verfolgungen gebrochen.

Der Nachfolger des revolutionären Aufklärers Belinskij und Fortsetzer seines Werkes war der große russische Schriftsteller und Gelehrte, der revolutionäre Demokrat Tschernyschewskij.

Nikolaj Gawrilowitsch Tschernyschewskij 1828 bis 1889
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

Lenin nannte Tschernyschewskij den großen Sozialisten der vormarxistischen Periode. Wie Herzen und Belinskij hatte auch er noch nicht begriffen, dass nur die Arbeiterklasse das Land zum Sozialismus führen kann. Tschernyschewskij verfocht das Programm der Bauernrevolution, wobei er die völlige Abschaffung der Leibeigenschaft und die unentgeltliche Übereignung des gesamten Grund und Bodens an die Bauern forderte. Für ihn verband sich die weitere Entwicklung des Landes auf dem Wege zum Sozialismus mit der Bauerngemeinde. Seine sozialistischen Ansichten legte Tschernyschewskij in einer Reihe von Artikeln nieder. Besonders markant sind die Ansichten in dem Roman „Was tun?“ dargelegt, der von ihm während der Zeit seiner Haft in der Festung geschrieben worden ist.

Im Jahre 1861 ging aus Tschernyschewskijs Zirkel die in einfacher Volkssprache geschriebene Proklamation: „Gruß an die leibeigenen Bauern von den ihnen Wohlwollenden“ hervor. Die Proklamation rief die Bauern auf, sich einmütig und organisiert für den allgemeinen Aufstand gegen den Zaren und die Gutsbesitzer vorzubereiten. Mit ebensolchen Proklamationen wandte sich Tschernyschewskijs Zirkel an die Soldaten und an die junge Generation.

Diese Proklamationen fielen der Polizei in die Hände. Tschernyschewskij und seine Freunde wurden verhaftet. Nachdem Tscheryschewskij zwei Jahre in der Peter-Paul-Festung festgehalten worden war, wurde er zu 14 Jahren Zwangsarbeit und zur lebenslänglichen Strafansiedlung in Sibirien verurteilt. Vor seiner Verschickung zur Zwangsarbeit wurde an Tscheryschewskij noch die mittelalterliche Zeremonie einer Hinrichtung vollzogen. Auf einem der Petersburger Plätze führten Henker Tschernyschewskij auf das Schafott, ließen ihn niederknien, fesselten ihn mit Ketten an den Schandpfahl und zerbrachen den Degen über seinem Kopf. Es regnete. Tschernyschewskij stand ruhig im Regen, das Ende der Verhöhnung abwartend. Als man ihn das Schafott herunterführte, trat ein Mädchen aus der Menge der Jugend hervor, die sich am Ort des Strafvollzugs versammelt hatte, und warf ihm als Zeichen der Bewunderung und Huldigung für die Standhaftigkeit des Revolutionärs Blumen vor die Füße.

Tschernyschewskij war ein großer russischer Patriot, der sein ganzes Leben seinem Volke weihte. Bereits in seiner Jugend schrieb er: „Zum Ruhme des Vaterlandes beizutragen, nicht zum vergänglichen, sondern zum ewigen Ruhme des Vaterlandes und zum Wohle der ganzen Menschheit – was kann es Edleres und Wünschenswerteres geben als das?“ Bis an sein Lebensende blieb Tschernyschewskij dieser großen Idee treu.

Nikolaj Alexandrowitsch Dobroljubow 1836 bis 1861
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

 

Tschernyschewskijs nächster Mitkämpfer und Freund war Nikolaj Alexandrowitsch Dobroljubow. Gemeinsam mit Tschernyschewskij und Nekrassow war Dobroljubow an der Herausgabe des Kampforgans der revolutionären Demokratie, der Zeitschrift „Sowremennik“ („Der Zeitgenosse“), beteiligt. Ihm diente die literarische Kritik als Kampfmittel gegen die Selbstherrschaft und Leibeigenschaft. In unbeirrbarem Glauben an das Volk hielt Dobroljubow die Volksmassen für die gewaltige Kraft der Geschichte. Um aber diesen Kräften freien Lauf zu geben, forderte er die Bauernbefreiung und rief alle rechtlich denkenden und bewussten russischen Patrioten auf, die Bauernrevolution zu unterstützen. Im Jahre 1861 starb Dobroljubow im Alter von 25 Jahren an der Schwindsucht. Tschernyschewskij grämte sich sehr über den Verlust seines jungen Freundes, revolutionären Gesinnungsgenossen und Mitkämpfers. Marx und Engels stellten Dobroljubow in eine Reihe mit den großen westeuropäischen Aufklärern: Lessing und Diderot. Lenin schrieb über Dobroljubow, dass dem gesamten gebildeten und denkenden Russland „der Schriftsteller teuer sei, der leidenschaftlich die Willkür hasste und leidenschaftlich den Volksaufstand gegen die ‚Türken im Innern‘, gegen die Selbstherrschaft, erwartete.“

 

Einer von Tschernyschewskijs Gefährten in seinem Kampf um die Bauernrevolution war der Dichter der revolutionären Bauerndemokratie Nikolaj Alexjewitsch Nekrassow.

Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow 1821 bis 1877
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947

Schüler und Nachfolger des großen russischen Kritikers Belinskij, der auf den jungen Dichter einen gewaltigen ideellen Einfluss ausübte, richtete Nekrassow die gesamte Kraft seiner „zündenden Verse“ auf den Kampf mit den Übeln und den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft seiner Zeit. In seinen Poemen und Gedichten geißelte er die Anhänger der Leibeigenschaft und rief das Volk zum Kampf gegen den Zaren und die Gutsbesitzer auf. Sein Schaffen übte in der Periode des Aufschwungs der Bauernbewegung Ende der 50er Jahre einen gewaltigen Einfluss auf den demokratischen Teil der Gesellschaft aus. Nekrassows Gedichte, die in der bilderreichen Volkssprache geschrieben sind, wurden zu Lieblingsliedern des russischen Volkes.

Lenin nannte Herzen, Belinskij, Tschernyschewskij, Dobroljubow die großen russischen Aufklärer. Sie vereinte der leidenschaftliche Hass gegen die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft und alle ihre Überbleibsel.

Die Aufklärer verteidigten die Interessen der Volksmassen und waren bestrebt, Russland nach neuen, europäischen Grundsätzen umzuwandeln. Durch ihre Predigten halten die revolutionären Aufklärer, jene neue Etappe in der Geschichte Russlands vorzubereiten, in der die breiten Volksmassen der Arbeiter und Bauern zum Kampf gegen den Zarismus unter der Leitung der bolschewistischen Partei antraten.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhoben sich die Revolutionäre aus verschiedenen Klassen zum Kampf gegen den Zarismus, aber erst am Ende dieses Jahrhunderts trat die konsequenteste und entschlossenste Klasse auf den Plan: das Proletariat, dem es gelang, den großen Befreiungskampf bis zum Ende zu führen.

Lenin sagte prophetisch voraus, dass die russische Arbeiterklasse „sich den Weg zur freien Vereinigung mit den sozialistischen Arbeitern aller Länder bahnen wird, nachdem sie jene Natter, die Zarenmonarchie, zertreten haben wird, gegen die Herzen als erster das große Banner des Kampfes erhoben hat, indem er sich an die Massen mit dem freien russischen Wort wandte“.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

ORIGINAL-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947