Kategorie Der Vaterländische Krieg des Jahres 1812
Russland und Westeuropa am Ende des 18. Und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der große Feldherr Kutusow
Am Ende des 18. Jahrhunderts traten die fortgeschrittenen Länder Europas und Amerikas in einen neuen Zeitabschnitt der Geschichte ein: in das Zeitalter des Sieges und des Erstarkens des Kapitalismus. In dem entwickelsten und reichsten Land jener Zeit -England- fand im 18. Jahrhundert eine industrielle Umwälzung statt, die mit der Erfindung der Dampfmaschine verbunden war. Auch andere große Mächte beschritten den Weg der Entwicklung des Kapitalismus. In Nordamerika wurde in den Jahren 1775 bis 1783 ein Krieg gegen England um die Unabhängigkeit geführt. Die Amerikaner, die sich gegen die englische Herrschaft erhoben hatten, bildeten mit ihrem nationalen Führer Washington an der Spitze einen eignen großen Staat: die Vereinigten Staaten von Nordamerika.
In Frankreich hatte das aufständische Volk von Paris am 14. Juli 1789 das königliche Gefängnis, die Bastille, gestürmt und für das ganze Land das Signal zur Revolution gegeben. Die französische Nationalversammlung verkündete in ihrer „Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte“ Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das Privateigentum wurde für heilig und unverletzlich erklärt. Im Jahre 1792 wurde in Frankreich die Republik ausgerufen. Der französische König Ludwig XVI. wurde hingerichtet. Die Feudalpflichten der Bauern wurden abgeschafft. Die Ländereien, die die Gutsbesitzer sich angeeignet hatten, wurden den Bauern zurückgegeben.
Der Sieg der bürgerlichen Revolution in Frankreich eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit: nach tausendjähriger Herrschaft der feudalen Gesellschaftsordnung setzte sich die neu kapitalistische (bürgerliche) Gesellschaftsordnung durch, die auf dem Privateigentum an Grund und Boden, an den Fabriken und Werken, an den Produktionsmitteln beruht.
Die bürgerliche französische Revolution versetzte dem Feudalismus nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern Europas einen schweren Schlag. Dies war auch der Grund, weshalb das gesamte feudale Europa zum Kampf gegen die Französische Revolution antrat. Ein aktiver Teilnehmer der europäischen Gegenrevolution war auch das zaristische Russland. Jekaterina II. (Katharina die Große) erklärte, dass sie nicht zulassen könne, dass irgendwo dien Staat von Schustern regiert werde. Sie begann entscheidende Maßnahmen gegen die „französische Seuche“ in Russland zu treffen. Die Werke der fortschrittlichen französischen Aufklärer: Voltaire, Diderot, Rousseau und andere, die ehedem in russischen Adelskreisen eine große Verbreitung gefunden hatten, wurden für aufrührerisch erklärt. Jekaterina II. (Katharina die Große) rechnete mit den russischen „Freidenkenden“ grausam ab.
Solange die französischen Aufklärer nur dem engen Kreis des gebildeten Adels zugänglich blieben, hatte Jekaterina II. (Katharina die Große) selbst ein gemäßigtes Freidenkertum gefördert. Im Bestreben, die Achtung der hervorragenden Persönlichkeiten Europas zu gewinnen, hatte sie mit Voltaire korrespondiert und sogar den französischen Denker Diderot nach Russland eingeladen.
Einer der gebildetsten Vertreter des Moskauer Adels, Nikolaj Iwanowitsch Nowikow, errichtete mit dem Ziel der Verbreitung von Büchern ein großes Netz von Buchläden. In einem dieser Läden eröffnete er die erste öffentliche Bibliothek Russlands. Nowikow gab satirische Zeitschriften heraus, in denen die Unwissenheit und Hochmut des Adels, Bestechlichkeit und Unterschlagung, Willkür und Gewalttätigkeit gegenüber der Leibeignen Bauernschaft gegeißelt und die modische Begeisterung des Adels für alles Ausländische kritisiert wurde. Nach der Französischen Revolution wurde Nowikow verhaftet und in die Schlüsselburger Festung als gefährlicher Freidenker eingesperrt. Die von ihm und seinen Anhängern eingerichteten Buchläden wurden geschlossen und sein Eigentum vom Fiskus beschlagnahmt.
Noch mehr erschreckt wurde die Zarin Jekaterina II. (Katharina die Große) von einem Werk, das im Jahre 1770 ohne Verfasserangabe unter dem Titel „Eine Reise von Petersburg nach Moskau“ erschien. Dieses Werk entlarvte mit Kühnheit und Offenheit die auf der Leibeigenschaft beruhende Ordnung und malte die Gräuel der Leibeigenschaft aus. Als dieses Buch Jekaterina II. (Katharina die Große) in die Hände geriet, hielt sie den Verfasser für einen „schlimmeren Verbrecher als Pugatschow“. Als Verfasser entpuppte sich Alexander Nikolajewitsch Radischtschew, einer der gebildetsten Leute des 18. Jahrhunderts. Mit außergewöhnlicher Leidenschaft und Kraft entlarvte er die Verhöhnung der Bauern durch die Gutsbesitzer: „Ich schaute um mich, und meine Seele wurde durch die menschlichen Leiden verwundet. Ich wandte meine Blicke in mein Inneres und wurde gewahr, dass die Leiden der Menschen vom Menschen selbst ausgehen.“ An die Gutsbesitzer sich wendend, die sich gegenüber den Bauern unmenschlich verhielten, rief Radischtschew zornig aus: „Gierige Tiere, unersättliche Blutegel, was lassen wir den Bauern? Das, was wir nicht wegnehmen können: die Luft! Ja, nur die Luft!“

Bild entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947
Radischtschew rief das russische Volk als erster zum Sturz des Zarentums auf. Das Volk wird sich als ein drohender Rächer erheben und den „gusseisernen Thron“ zertrümmern, prophezeite Radischtschew in seiner Ode „Freiheit“.
Auf Befehl Jekaterinas (Katharina die Große) wurde Radischtschews Buch verbrannt, der Verfasser selbst aber verhaftet und dem Gericht übergeben. Das Gericht verurteilte Radischtschew zur Todesstrafe. 41 Tage lang ließ man ihn auf die Hinrichtung warten. Diese Marter war von Jekaterina II. (Katharina die Große) ausgedacht worden. Nach dieser Verhöhnung wurde Radischtschew für zehn Jahre nach Sibirien verbannt. Im Jahre 1802 machte Radischtschew, körperlich und geistig gebrochen, seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.
Lenin schätzte die Rolle Radischtschews in der russischen Freiheitsbewegung hoch ein. Er nannte ihn einen glühenden russischen Patrioten und Aufklärer. Radischtschew war der erste adlige Revolutionäre, der gegen die Leibeigenschaft und gegen den Zarismus offen Protest erhob.
Zu jener Zeit spielten sich große Ereignisse in Frankreich ab. Von der weiteren Entwicklung der Revolution erschreckt, unternahm die französische Bourgeoisie am 9. Thermidor (27. Juli) 1794 einen gegenrevolutionären Umsturz, der in die Geschichte unter der Bezeichnung „Umsturz des Thermidor“ eingegangen ist. An die Macht kam die Großbourgeoisie. Sie begann alle Errungenschaften der Französischen Revolution, die ihr gefährlich erschienen, zu vernichten. Die Bourgeoisie brauchte eine starke Macht, die endgültig die Revolution unterdrücken würde. Zu diesem Zweck wurde am 9. November 1799 in Frankreich mit Hilfe der Bourgeoisie die Militärdiktatur eines der talentvollsten französischen Generale –Napoleons– errichtet. Im Jahre 1804 wurde Napoleon Bonaparte zum Imperator von Frankreich ausgerufen.
In den ersten Jahren der Französischen Revolution führte Frankreich revolutionäre Befreiungskriege, aber später änderte sich der Charakter dieser Kriege.
Im Interesse der französischen Großbourgeoisie, die mit den englischen Kapitalisten im Wettstreit lag, begann Napoleon große Eroberungskriege sowohl in Europa als auch außerhalb seiner Grenzen.
Als seinen Hauptgegner betrachtete Napoleon England. Nachdem er eine gewaltige Armee aufgestellt hatte, trug er sich mit dem Plan, den engen Ärmelkanal zu überqueren und in England einzufallen. Die Gefahr stand so nahe vor der Tür, dass England von seinen Verbündeten -Österreich und Russland- verlangte, den Krieg gegen Napoleon unverzüglich zu beginnen.
Die russische Regierung hatte fünf Armeen in einer Stärke von 250 000 Mann ausgerüstet. Gegen Napoleon wurde zur Verfügung des österreichischen Kaisers die 1. Armee in Stärke von 58 000 Mann geschickt, die die Hauptlast des Kampfes zu tragen hatte. An der Spitze dieser Armee stand der große russische Feldherr, der beste Schüler und Waffengefährte Suworows, Michail Illarionowitsch Kutusow.

Bild entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947
Michail Illarionowitsch Golenischtsew-Kutusow wurde am 5. September 1745 in Petersburg geboren. Sein Vater war einer der gebildetsten Menschen seiner Zeit. Die Liebe zur Wissenschaft übertrug er auch auf seinen Sohn. Michail Kutusow absolvierte mit Erfolg die Ingenieur-Kadettenschule. Er hatte das Ingenieur- und Artilleriewesen fleißig studiert, sich begeistert mit Mathematik beschäftigt und beherrschte ausgezeichnet mehrere fremde Sprachen. Michail Illarionowitsch wurde zum Kompaniechef im Astrachaner Regiement, das Suworow befehligte, ernannt. Dem großen Feldherrn fiel der junge befähigte Offizier sofort auf, er zog ihn in seine Nähe und übte großen Einfluss auf ihn aus.
Im Kampf zeigte Kutusow nicht nur Tapferkeit und Kühnheit, sondern auch eine unerschütterliche Kaltblütigkeit, Organisationsgeist und Initiative. Während des zweiten türkischen Krieges nahm Kutusow an dem berühmten Sturm auf Isamil mit teil. Hier besonders zeigten sich seine organisatorischen und Feldherrentalente. Suworow berichtete von ihm: „General Kutusow zeigte neue Errungenschaften der Kriegskunst und bewies persönliche Tapferkeit. Er stand auf meinem linken Flügel, war jedoch meine rechte Hand.“
Kutusow nahm an vielen Gefechten persönlich teil, wurde dreimal verwundet, kehrte aber stets wieder zur Truppe zurück. Im Gefecht bei Aluschta (auf der Krim) stürmte Kutusow mit der Fahne in der Hand voran und riss dadurch seine Soldaten zum Sturm mit sich fort. In dieser Schlacht wurde er schwer verwundet und verlor ein Auge.
Kutusow war ein strenger, aber rücksichtsvoller Kommandeur, der den sinnlosen Drill und die Stockdisziplin hasste. Wie Suworow hasste er die Kriecherei und Schmeichelei und die Bestechlichkeit, die am Zarenhof herrschten. Deshalb war Kutusow beim Hof nicht beliebt. Alexander I. selbst konnte ihn nicht leiden. Aber die Soldaten liebten und schätzten ihren Kommandeur.
Zu Beginn des Krieges des Jahres 1805 übertrug Alexander I. unter dem Druck der öffentlichen Meinung Kutusow den Oberbefehl über die russischen Truppen. Kutusow, der den vom Zaren angenommenen Feldzugsplan ausführte, marschierte durch Galizien und Schlesien, um sich mit den Österreichern zu vereinigen. Als er erfahren hatte, dass die österreichische Armee bei Ulm geschlagen worden war und kapituliert hatte, führte er die russischen Truppen durch ein geschicktes Manöver auf das linke Ufer der Donau und trat den Rückzug an. Kutusow lieferte Napoleon nicht die Entscheidungsschlacht, die jener so gern haben wollte, und zwang ihn, seine Kräfte zu verzetteln und seine Nachschubwege auseinanderzuziehen. Bald traf bei der russischen Armee auch der Imperator Alexander I. selbst ein. Er träumte vom Ruhm eines Feldherrn und Besiegers Napoleons. Der Zar berief einen Kriegsrat und drang darauf, Napoleon seine Entscheidungsschlacht zu liefern. Kutusow widersprach und schlug vor, sich in Gebiete mit gesicherter Verpflegung zurückzuziehen und dort Kräfte für einen neuen Angriff zu sammeln. Der Zar jedoch lehnte Kutusows Plan ab.
Am 20. November 1805 schlugen die Franzosen bei dem Dorfe Austerlitz die russischen und österreichischen Truppen. Alexander I. und er österreichische Kaiser flohen vom Schlachtfeld. Aber auch in der Schlacht bei Austerlitz erkannte Napoleon die Tapferkeit und den Mut der russischen Soldaten, die die ganze Welt in Erstaunen versetzten, an.
Im Herbst 1806 versetzte Napoleon bei Jena der preußischen Armee einen entscheidenden Schlag. Berlin wurde den Franzosen kampflos überlassen. Im Januar 1807 rückte Napoleon in Warschau ein. Die ohne Verbündete verbliebenen russischen Truppen mussten sich zurückziehen, führen jedoch fort, der mächtigen napoleonischen Armee hartnäckigen Widerstand zu leisten.
Die geschlagenen Bundesgenossen Russlands machten mit Napoleon Frieden. Auch Alexander I. war gezwungen, im Jahre 1807 in der Stadt Tilsit einen für Russland unvorteilhaften Friedensvertrag zu unterzeichnen, die Handelsbeziehungen mit England abzubrechen und der von Napoleon organisierten sogenannten Kontinentalsperre breitzutreten. Der Tilsiter Frieden rief die Unzufriedenheit des russischen Adels hervor und verschärften noch mehr seine feindliche Einstellung gegenüber Napoleon.
Die Türken versuchten, die Misserfolge der russischen Armee im Krieg mit Napoleon für sich auszunutzen und ihre Herrschaft im Schwarzen Meer wieder aufzurichten. Vom Jahre 1806 bis 1812 musste Russland mit der Türkei Krieg führen. Der wenig erfolgreiche Verlauf dieses Krieges veranlasste Alexander I., sich Kutusows zu erinnern, der nach Austerlitz seines Amtes enthoben worden war und keinen Dienst mehr tat. Kutusow wurde zum Befehlshaber bestimmt und errang große Siege über die Türken. In der Einsicht, dass ein neuer Krieg Russlands mit Frankreich unvermeidlich war, bemühte sich Kutusow, so bald wie möglich den Krieg im Osten zu beenden. Nach einigen erfolgreichen Schlachten gelang es ihm, die Türkei zum Abschluss eines Friedens zu bewegen, der am 8. Mai 1812 in Bukarest unterzeichnet wurde. Nach dem Friedensvertrag trat die Türkei Bessarabien an Russland ab. Die war ein großer Sieg Russlands. Napoleons Pläne, die Türkei in den künftigen Krieg gegen Russland mit zu verwickeln, stürzten zusammen.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel
Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
ORIGINAL-Text aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947
Der Einfall Napoleons in Russland. Die Zerschmetterung der napoleonischen Armeen
Im Jahre 1812 lag fast ganz Westeuropa zu Füßen des Eroberers Napoleon. Aber Napoleon wusste, dass er nicht der Beherrscher der Welt werden konnte, solange er Russland nicht zerschmettert hatte. Er begann eine große Vorbereitung für eine Invasion in Russland. Napoleon wollte Russland zerstückeln, die Ukraine von ihm losreißen und Russland in eine Kolonie Frankreichs verwandeln.
In der Nacht zum 12. Juni 1812 setzte die „Große Armee“ Napoleons über den Njemen und begann den Angriff gegen Russland.
Die napoleonische Armee wies damals eine Stärke von 600 000 Man auf. Den Hauptstreitkräften Napoleons stellte sich die 1. Russische Armee unter dem Befehl Barclay de Tollis entgegen. Sie hatte eine Frontstellung am Ufer des Njemen bezogen. Die 2. Armee, an deren Spitze Baration stand, befand sich im Süden Litauens, und zwar zwischen Njemen und Bug. In Reserve war noch die kleine 3. Armee des Generals Tormassow, die in Wolhynien und Podolien stand.
Napoleon hatte sich die Aufgabe gestellt, Russland mit einem schnellen Schlag zu erledigen. Er rechnete damit, schon in den ersten Tagen des Krieges so tief wie möglich sich zwischen die Armeen Barclays und Bagrations einzukeilen und sie einzeln zu schlagen. Die russische Führung nahm sie unter den damaligen Bedingungen einzig richtige Taktik an: sich zurückzuziehen, einer Entscheidungsschlacht auszuweichen und die beiden Armeen auf dem Vormarschweg Napoleons auf Moskau zu vereinigen. Marx hat darauf hingewiesen, dass der Rückzugsplan der russischen Armee keine Angelegenheit einer freien Wahl, sondern eine harte Notwendigkeit war.
Nach anderthalb Monaten gelang es endlich den Armeen Barclays und Bagrations, sich bei Smolensk zu vereinigen. Zur selben Zeit war Napoleon gegen Smolensk vorgerückt und begann es mit Kanonen zu beschießen. Barclay gab den Befehl die Pulvermagazine in die Luft zu sprengen und die in Flammen stehende Stadt zu verlassen. Gemeinsam mit den Truppen zogen die Einwohner von Smolensk ab, die ihre Häuser und sonstige Habe angezündet hatten, damit dem Feind nichts in die Hände fiel.
Die Ergebnisse der Taktik von Barclay zeigten sich sehr bald. Napoleons Armee, die noch keine einzige größere Schlacht geliefert hatte, erlitt große Verluste. Schon in den Gebieten Litauens und Bjelorusslands hatte der Krieg den Charakter eines Volkskrieges angenommen. Die litauischen und bjelorussischen Bauern weigerten sich, die französische Armee mit Lebens- und Futtermitteln zu beliefern, sie erschlugen französische Soldaten und Offiziere, stellten Abteilungen auf und fielen über die französischen Nachhuten her.
Weite Schichten der russischen Gesellschaft, die die Taktik Barclays nicht verstanden, waren äußerst unzufrieden mit dem Rückzug und verlangten einen Wechsel in der Kommandoführung. Ein Name nur im Munde aller: Kutusow.
Alexander I., der dem Verlangen der Armee und des Adels nachkam, ernannte ihn zum Oberbefehlshaber.
Kutusow kam am 17. August zur Armee, die sich nach Zarjowo Sajmischtsche zurückzog. Die Soldaten empfingen den neuen Befehlshaber mit Jubel. „Kutusow ist gekommen, um die Franzosen zu schlagen“ (Im Russischen ein Reim), sprachen sie untereinander. Kutusow setzte den Rückzug fort und begann eine energische Vorbereitung für die Schlacht.
Die Stellung für die Schlacht mit den Franzosen wurde in der Nähe des Dorfes Borodino gewählt. Die Gegend war hier hügelig und von Schluchten durchzogen. Im Zentrum der Stellung der russischen Armee befand sich das Dorf Borodino und am linken Flügel das Dorf Semjonowskoje. Die breite Ebene vor dem Dorf Semjonowskoje war für Bewegungen der Truppen günstig. Hier wurden eilig drei Erdbefestigungen mit kleinen Gräben und niederen Wällen angelegt.
Kutusow übernahm das allgemeine Kommando, die rechte Flanke übertrug er Barclay de Tolli und die linke Bagration. Das Zentrum verteidigte die Batterie unter dem Kommando des Generals Rajewskij.
Am Morgen des 26. August trafen sich die französische und die russische Armee auf dem Feld von Borodino. Napoleon näherte sich Borodino mit einer Armee von 135 000 Mann und einer Artillerie von 587 Geschützen. Die russischen regulären Truppen zählten bei Borodino 120 000 Mann.
Napoleon plante, den Hauptschlag gegen die linke Flanke der Russen zu führen. Ein Angriff der Franzosen folgte dem anderen, aber die russischen Truppen, angefeuert von Bagration, schlugen sie mit ungewöhnlicher Standhaftigkeit ab. Napoleon war gezwungen, auf diesem Abschnitt bis zu 400 Geschütze zu konzentrieren. Mehr als sechs Stunden dauerte die Schlacht. Von den Splittern einer Kanonenkugel wurde Bagration tödlich verwundet. General Dochturow übernahm das Kommando. Die russischen Truppen kämpften heldenmütig. Nur mit gewaltigen Anstrengungen gelang es den Franzosen, den linken Flügel der russischen Armee zu bedrängen. Danach befahl Napoleon, die Batterie Rajewskijs anzugreifen. In einem Erbitterten Ringen kamen fast alle ihre Verteidiger um.
Aber den Franzosen gelang es nicht, den Widerstand der russischen Armee zu brechen; Kutusow leitete geschickt die Schlacht. Im entscheidenden Moment dirigierte er gegen den Rücken des Feindes die Kosaken Platows, deren Angriff Napoleons Absichten vereitelte.
Die Schlacht von Borodino war außerordentlich erbittert. Die Verluste auf beiden Seiten waren sehr groß. Als Reserve verblieb Napoleon nur seine berühmte Garde, aber er lehnte es entschieden ab, sie in den Kampf zu schicken. „3000 Kilometer von Paris entfernt kann ich nicht meine letzte Reserve aufs Spiel setzen“, erklärte Napoleon. Am Abend gab er den Befehl, die Truppen vom Schlachtfeld zurückzuziehen.
Die Schlacht bei Borodino offenbarte den Heldenmut und die Kraft der russischen Armee.
In seiner Meldung an den Imperator Alexander I. über die Schlacht bei Borodino äußerte sich Kutusow mit großem Lob über die außerordentliche Tapferkeit und Kühnheit der russischen Soldaten: „Die Schlacht war eine allgemeine, die bis in die Nacht hinein andauerte. Die Verluste sich auf beiden Seiten groß; die feindlichen Verluste, nach den hartnäckigen Attacken auf unsere Stellung zu schließen, müssen unsere beträchtlich überschreiten. Die Truppen Eurer Kaiserlichen Majestät kämpften mit unglaublicher Tapferkeit, die Batterien gingen mehrmals aus einer Hand in die andere über. Es endigte damit, dass der Feind trotz seinen überlegenen Kräften nirgends einen Schritt Land gewann.“
Napoleon selbst gestand vor seinem Tod: „Von allen meinen Schlachten war die schrecklichste jene, die ich bei Moskau lieferte. Die Franzosen zeigten sich in dieser Schlacht würdig, den Sieg davonzutragen, die Russen aber erwarben sich den Ruf, unbesiegbar zu sein.“
Nach der Schlacht bei Borodino hatte jedoch die russische Armee immer noch nicht das Übergewicht der Kräfte und zog sich auf der Moskauer Landstraße langsam zurück. Niemand glaubte an die Möglichkeit einer kampflosen Übergabe Moskaus. Aber die Stellung bei Moskau war für eine neue Schlacht ungeeignet. Es war nötig, die Armee für den bevorstehenden Kampf zu erhalten und vorzubereiten. Kutusow entschloss sich, Moskau aufzugeben. Auf dem Kriegsrat im Dorf Fili sprach Kutusow zu seinen Generalen: „Solange die Armee noch besteht und sich in dem Zustand befindet, dem Gegner Widerstand zu leisten, solange werden wir die Hoffnung bewahren, den Krieg günstig zu beenden. Wenn aber die Armee vernichtet sein wird, werden Moskau und Russland untergehen.“
Kutusow nahm in vollem Umfang die Verantwortung für die Übergabe Moskaus auf sich. Als er allein war, konnte er sich nicht beherrschen und fing an zu weinen. „Aber nicht doch“, rief er im Zorn und schlug mit der Faust auf den Tisch, „sie werden Pferdefleisch fressen wie die Türken!“
Am frühen Morgen des 2. September 1812 marschierten die zurückziehenden russischen Truppen in einem ununterbrochenen Strom durch Moskau. Gemeinsam mit der Armee verließen die Einwohner die Stadt.
Als die französische Armee das stille und menschenleere Moskau betrat, flammte in vielen Stadtteilen Brände auf. Sie hielten sechs Tage an. Aus den Fenstern des Kremlpalastes schaute Napoleon auf das Flammenmeer. Der stolze Eroberer schauderte: „Was für ein Volk“rief er aus. „Sie selbst verbrennen alles. Das kündigt uns viel Unglück an.“
Niemand bekämpfte die Brände. Die Moskauer sagten beim Verlassen der Stadt: „Möge alles zugrunde gehen, wenn es nur dem Feind nicht in die Hände fällt!“
Die napoleonische Armee plünderte im brennenden Moskau alles, was vom Feuer verschont blieb. Unter den französischen Soldaten begann eine „epidemische Trunksucht“, die „Große Armee“ zersetzte sich. Auf alle Friedensvorschläge, mit denen sich Napoleon an Alexander I. wandte, bekam er keine Antwort. In Moskau zu überwintern, war sinnlos. Napoleon entschloss sich, Moskau zu verlassen.
Am 6. Oktober, um 7 Uhr morgens, begann Napoleon den Rückzug aus Moskau. Er wandte sich nach Kaluga, wo sich die Proviantlager der russischen Armee befanden. Aber noch vordem hatte Kutusow, der zum Schein auf der Rjasaner Landstraße aus Moskau abgerückt war, ein Umgehungsmanöver vorgenommen und erschien auf der Kalugaer Landstraße. Hier, bei Malojaroslawez, verlegte die russische Armee Napoleon den Weg. Es entwickelte sich ein hartnäckiger Kampf. Achtmal an einem Tag ging Malojaroslawez von einer Hand in die andere über. Napoleon, der sich nicht zu einer neuen Generalschlacht mit den Truppen Kutusows entschlißen konnte, befahl, auf die alte Smolensker Landstraße abzudrehen. Kutusow verfolgte unablässig den Feind im parallelen Marsch und brachte ihm ernste Flankenschläge bei. Im Rücken und auf den Wegen der zurückgehenden napoleonischen Armee operierten die russischen Partisanen.
Einer der Organisatoren der Partisanenabteilungen war der Dichter und Husar Denis Dawydow, ein begeisterter Anhänger und Verehrer von Suwurow. Später fasste er seine reichen Erfahrungen im Partisanenkampf in einem Buch unter dem Titel „Tagebuch der Partisanenaktionen im Jahre 1812“ zusammen. Dawydow prophezeite, dass der Partisanenkampf in den Befreiungskriegen des russischen Volkes eine große Rolle spielen würde.
Die Partisanen lauerten die französischen Trossen auf und fielen über sie her, oder sie beunruhigten die Nachhuten des Gegners mit ihren plötzlichen Überfällen. Sie nahmen einzelne Soldaten und auch ganze französische Abteilungen gefangen. Die Partisanen wurden eifrig von den Bauern unterstützt, die nicht selten selber Partisanenabteilungen aufstellten und mit außergewöhnlicher Tapferkeit kämpften. Diejenigen, die keine Gewehre hatten, gingen mit Beilen und Mistgabeln in den Kampf. Die Bauernfrauen nahmen neben den Männern am Partisanenkampf mit dem Feind teil. Kutusow unterstützte auf jede Art das Vorgehen der Bauern gegen die napoleonischen Armeen. „Welcher Feldherr würde nicht, wie ich, mit einem solchen tapferen Volk dem Feind eine Niederlage bereiten können? Ich bin glücklich, dass ich die Russen führe!“ schreib Kutusow, als er die gewaltige patriotische Erhebung des Volkes sah.
Die russischen Truppen verfolgten ununterbrochen den Feind, der dadurch große Verluste erlitt. Bei Krasnoje fand eine neue Schlacht statt, die Napoleon viele Tausende von Soldaten kostete. Es traten frühzeitige Fröste ein. Der Schnee bedeckte die Ebenen und die zerstörten oder verbrannten Dörfer, in denen die Franzosen weder Schutz vor der Kälte noch Nahrung fanden. Eine Massenfahnenflucht begann. Die Disziplin sank. Die Verbände der hungrigen französischen Soldaten verwandelten sich in Banden von Marodeuren.
Unablässig von Kutusow verfolgt, erreichte Napoleon endlich die Beresina. Der Übergang erfolgte unter einem Kugelhagel. Mit Napoleon überschritten etwas 60 000 Man die Beresina.
Aber auch diese Armee lichtete sich immer mehr. Ende Dezember blieben von der „Großen Armee“ kaum 30 000 Mann übrig.
Als der Feind endgültig vom russischen Gebiet verjagt war, las das gesamte Land mit freudigem und stolzem Gefühl Kutusows Aufruf an die Armee, in dem er den beispiellosen Heldentaten und der Tapferkeit der russischen Soldaten Anerkennung zollte: „Tapfere und siegreiche Truppen! Endlich seid ihr an den Grenzen des Reiches angelangt! Jeder von euch ist ein Retter des Vaterlandes, Russland begrüßt euch mit diesem Namen! Die ungestüme Verfolgung des Feindes und die außergewöhnlichen Mühen, die ihr in diesem schnellen Feldzug auf euch genommen habt, setzen alle Völker in Erstaunen und bringen uns unsterblichen Ruhm ein.“
Das russische Volk und seine heldenhafte Armee, geführt von dem großen Feldherren Kutusow, zerschmetterten die französischen Eroberer, die auf Russlands Unabhängigkeit einen Anschlag verübt hatten. Das russische Volk erblickte in Napoleon einen Eroberer und einen Unterjocher und begann gegen ihn einen allgemeinen Volkskampf. Darin lag der Hauptgrund des Unterganges der „Großen Armee“ Napoleons.
Der Krieg des Jahres 1812 war ein gerechter Krieg des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit. Er ging in die Geschichte Russlands unter der Bezeichnung „Vaterländischer Krieg“ ein.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel
Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
