
Kalenderblatt November 2025

Der Beginn der Arbeiterbewegung

Die Ausbreitung des Marxismus in Russland

Der Beginn der revolutionären Tätigkeit Lenins und Stalins

Das Proletariat begann mit den ersten Schritten seiner Entwicklung den Kampf gegen die kapitalistischen Unterdrücker. Tausende von Arbeitern, die in einer Fabrik beschäftigt waren, konnten sich miteinander für den Kampf gegen den ausbeuterischen Fabrikanten verabreden. Sie forderten Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, Erhöhung des Arbeitslohnes, Verkürzung der Arbeitszeit. Wenn der Unternehmer es ablehnte, die Forderungen zu befrieden, so legten sie die Arbeit nieder, brachten die Maschinen zum Stehen. Eine solche Einstellung der Arbeit wurde „Statnutjsja“ (Streik) genannt (abgeleitet vom Wort „Staknustjsja“, d.h. sich verabreden). Als die Arbeiter die Forderungen vorbrachten, sagten sie oft: „Wenn man nicht nach unserem Willen tut, so werden wir nicht arbeiten, und damit basta!“ Daher wurden die Streiks auch „Sabastowki“ genannt.
In den ersten zehn Jahren nach der Reform des Jahres 1861 waren die Streiks nicht organisiert und trugen einen spontanen Charakter. Die Arbeiter traten fast ausschließlich mit ökonomischen Forderungen hervor. Viele glaubten noch, dass die Zarenmacht helfen würde, ihre gerechten Forderungen zu erfüllen. Andere brachten ihre schwere Lage mit der Einführung von neuen Maschinen in Zusammenhang, die die Arbeit der erfahrensten und geschicktesten Arbeiter entwertete.
Lenin schrieb über die ersten Aktionen des Proletariats: „Es gab eine Zeit, wo die Feindschaft der Arbeiter gegen das Kapital nur in einem dumpfen Gefühl des Hasses gegen ihre Ausbeuter, in dem undeutlichen Bewusstsein ihrer Unterdrückung und ihrer Knechtschaft und in dem Wunsch, sich an den Kapitalisten zu rächen, Ausdruck fand. Der Kampf äußerte sich damals in einzelnen Aufständen der Arbeiter, die die Gebäude zerstörten, die Maschinen zerbrachen, die Fabrikvorgesetzten verprügelten usw.“
Aber allmählich begann die Arbeiterbewegung, die in der Form von Aktionen gegen die einzelnen Kapitalisten begonnen hatte, den Charakter eines bewussten Kampfes der Arbeiterklasse gegen die gesamte Klasse der Kapitalisten anzunehmen. Aus den Reihen der Arbeiter traten immer mehr Revolutionäre hervor. Anfangs schlossen sich die revolutionären Arbeiter den Volkstümlern (Narodniki) an, die die revolutionäre Bewegung in Russland in den 1860-1870er Jahren, vor dem Auftreten der Marxisten, führten. Die Volkstümler behaupteten irrtümlich, dass der Kapitalismus in Russland eine fremde Erscheinung, dass der Keim der Grundlage des Sozialismus in der Bauerngemeinschaft, d.h. die bäuerliche Gesellschaft sei, die das gesamte zugeteilte Bauernland besitzt. Da die Bauern kein Privateigentum an dem Land besaßen, sondern nur zur Nutzung an den zugeteilten Parzellen des Grund und Bodens, der gesamten Gemeinschaft gehörte, erklärten die Volkstümler die Bauern als „geborene Sozialisten“.
Im Frühjahr des Jahres 1874 beschlossen viele von den Revolutionären, „ins Volk“, d.h. auf die Dörfer zu gehen, um unter den Bauern eine revolutionäre Agitation zu betreiben. Sie versuchten, die Bauern zum Kampf um Land und Freiheit, gegen die Gutsbesitzer und gegen den Zarismus aufzuwiegeln. Wegen dieses „Gehens ins Volk“ wurden sie eben „Volkstümler“ genannt. Der „Gang ins Volk“ erlitt einen völligen Zusammenbruch. Die Polizei, die Kulaken und die Popen (Geistlichen) fingen die Revolutionäre ab. Viele wurden zur Zwangsarbeit und Verbannung verurteilt. Daraufhin gab ein Teil der Volkstümler die Agitation unter den Bauern auf und begann, geheime Verschwörergruppen zu bilden, die sich das Ziel setzten, den Zaren und seine Helfer zu töten und auf diese Weise einen Umsturz in Russland herbeizuführen. Die Anhänger des Terrors schufen die Partei „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“), an deren Spitze Sheljabow und Sophia Perowskaja standen.
Am 1. März 1881 töteten die „Narodowolzen“ den Zaren Alexander II. Doch keinerlei Veränderungen zum Besseren ergaben sich hieraus. Den Platz Alexanders II. nahm sein Sohn Alexander III. ein. Die „Narodnaja Wolja“ wurde zerschlagen. Einige ihrer Führer wurden hingerichtet, die anderen eingekerkert. Die Reaktion im Lande verstärkte sich noch mehr.
Die fortschrittlichen Arbeiter, die sich anfangs den Volkstümlern angeschlossen hatten, begannen sie zu verlassen. Sie fingen an zu begreifen, dass nicht die Bauernschaft, sondern die Arbeiterklasse die führende Kraft der revolutionären Bewegung ist.
Unter den fortschrittlichen Arbeitern traten hervorragende Revolutionäre auf. Einer der ersten war der Weber Peter Alexjew. Ursprünglich ein Bauer aus der Smolensker Umgebung, lernte er als Autodidakt lesen und suchte eifrig in Büchern Antwort auf die ihn bewegenden Fragen über die Lage der Arbeiter und Bauern. Peter Alexejew betrieb eine revolutionäre Agitation unter den Arbeitern. Wegen revolutionärer Propaganda verhaftet, hielt er am 10. März 1877 vor Gericht eine bemerkenswerte Rede, die mit den Worten schloss: „Die Millionenmasse des Arbeitervolkes wird ihren muskulösen Arm erheben, und das von Bajonetten geschützte Joch der Despotie wird in Staub zerfallen.“
Lenin nannte diese Rede die große Prophezeiung des russischen Arbeiterrevolutionärs. Peter Alexejew wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit und zur Strafansiedlung in Jakutien verurteilt, wo er auch umkam.
Der revolutionäre Kampf der russischen Arbeiter begann zu jener Zeit, als in Westeuropa die von Marx und Engels geführte Arbeiterklasse bereits beim Aufbau ihrer Klassenorganisationen – der Gewerkschaften und Parteien – war. Zur Vereinigung der Arbeiter im Kampf gegen die Kapitalisten organisierten Marx und Engels im Jahre 1864 die Internationale Arbeiter-Assoziation-die Erste Internationale. Das Ziel der Internationalen Arbeiter-Assoziation war die Vereinigung der Arbeiter aller Länder zwecks Organisation des gemeinsamen Kampfes für die Vernichtung der Herrschaft der Kapitalisten und für die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die Sache der Arbeiterklasse selbst sein, schrieb Marx in den Statuten der Ersten Internationale. Unter der Leitung der Ersten Internationale. Unter der Leitung der Ersten Internationale organisierten die europäischen Arbeiter erfolgreich Streiks. Im Jahre 1871 stürzten sie Arbeiter von Paris die Macht der Bourgeoisie und riefen die Pariser Kommune aus. Die war die erste Regierung der Arbeiterklasse. Lenin nannte die Kommune das Urbild der Diktatur des Proletariats. Die Pariser Kommune existierte 72 Tage.
Die russischen Revolutionäre, die vor den Verfolgungen des Zarismus ins Ausland geflohen waren, schufen in der Ersten Internationale eine russische Sektion. Im März 1870 wandten sie sich an Marx mit der Bitte, die Vertretung Russlands im Generalrat der Internationale zu übernehmen. Marx nahm dieses Angebot an und schrieb ihnen in seiner Antwort, dass die Aufgabe der Vernichtung des Zarismus in Russland die notwendige Voraussetzung für die Befreiung nicht nur des russischen Volkes, sondern auch des europäischen Proletariats sei.
Die fortschrittlichen russischen Arbeiter waren, ebenso wie die westeuropäischen Arbeiter, bestrebt, ihre eigenen revolutionären Organisationen zu schaffen. Die erste revolutionäre Organisation in Russland war der „Südrussische Arbeiterbund“. Er war von Ewgenij Saslawskij im Jahre 1875 in Odessa gegründet worden und umfasste etwa 200 Metallarbeitet. Dieser Bund bestand ungefähr ein Jahr und wurde von der zaristischen Regierung zerschlagen, sein Organisator Saslawskij wurde zur Zwangsarbeit verurteilt und starb bald darauf im Gefängnis.
Einer der Leiter des „Südrussischen Arbeiterbundes“, Viktor Obnorskij, rettete sich vor der Verhaftung ins Ausland. Dort machte er sich mit der westeuropäischen Arbeiterbewegung bekannt. Nach Russland zurückgekehrt, gründete Viktor Obnorskij gemeinsam mit dem Tischler Stepan Chalturin im Jahre 1878 in Petersburg den „Nördlichen Bund russischer Arbeiter“, in dessen Programm es hieß, dass er sich nach seinen Aufgaben den sozialdemokratischen Parteien des Westens anschließe und sich zum Ziele setze, „die bestehende politische und wirtschaftliche Staatsform als eine äußerst ungerechte zu stürzen“. Bald zerschlug die Polizei auch den „Nördlichen Bund russischer Arbeiter“. Viktor Obnorskij wurde zur Zwangsarbeit verschickt, während Stepan Chalturin, der an dem Anschlag auf den Zaren Alexander II. teilgenommen hatte, am Galgen endete.
Die ersten Arbeiterorganisationen waren noch keine marxistischen, obgleich sie von der Volkstümlerrichtung abgerückt waren. Die fortschrittlichen Arbeiter fingen erst an, sich mit dem Marxismus bekannt zu machen.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
Im Jahre 1872 erschien in Russland der erste Band des großen Werkes von Marx „Das Kapital“. In diesem Werk entdeckte Marx die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft und begründete die Notwendigkeit des Kampfes des Proletariats für den Sozialismus. Die Lehre von Marx konnte nicht sofort große eine große Verbreitung unter den Arbeitern finden. Die Ideen von Marx muss in ihrem Bewusstsein erst beigebracht werden. Mit der Propaganda der Ideen des Marxismus in Russland begannen gebildete Marxisten mit Plechanow an der Spitze sich zu beschäftigen.

Unter den Gelehrten und Politikern des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts nimmt Georgij Waltentinowitsch Plechanow (1856 bis 1918) eine der ersten Stellen ein. Er liebte sein Vaterland und entschloss sich, sein Leben dem Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse von ihren Bedrückern und Ausbeutern zu widmen. „Ich bin in Russland geboren“, schrieb Plechanow im Jahre 1895, „und liebe glühend mein Land, obgleich die russischen Gendarmen und ihre Gesinnungsgenossen mich einen Verräter nennen. Meine Kräfte habe ich dem russischen Volk geweiht. Aber gerade deshalb, weil ich Russland und das russische Volk liebe, sehe ich klarer als jene, die dem Wohle unseres Landes gleichgültig gegenüberstehen, wie sehr die Interessen der russischen Regierung den Interessen des russischen Volkes entgegenstehen.“
Seit Jünglingsjahren hatte sich Plechanow den Volkstümlern angeschlossen, aber bereits im Jahre 1879 trat er aus der Organisation „Boden und Freiheit“ aus, da er nicht mit dem Übergang der Volkstümler zur Taktik des individuellen Terrors einverstanden war. Im Jahre 1880 fuhr Plechanow, der vom Zarismus verfolgt wurde, ins Ausland, wo er sich mit den Führern der Arbeiterbewegung bekannt machte und eine Verbindung mit Engels anknüpfte. Gleichzeitig studierte er eifrig die Werke von Marx und Engels. Einen besonders großen Eindruck machte auf ihn „Das Kommunistische Manifest“. „Ich war begeistert von dem ‚Manifest‘ und beschloss sofort, es in die russische Sprache zu übersetzen“, schrieb Plechanow.
Im Herbst 1883 schuf er die erste russische marxistische Organisation – die Gruppe „Befreiung der Arbeit“. Diese Gruppe leistete eine große Arbeit bei der Verbreitung der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus in Russland. Durch Mitglieder dieser Gruppe wurden viele Werke von Marx und Engels in die russische Sprache übersetzt und herausgegeben. In seinen Briefen an Engels vom 30. Oktober 1894 schreib Plechanow: „Die Propaganda Ihrer Ideen und der Ideen von Marx betrachte ich als Aufgabe meines Lebens.“
In seinen ersten marxistischen Arbeiten „Sozialismus und politischer Kampf“ und „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bewies Plechanow, dass zusammen mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland auch die revolutionäre Arbeiterklasse wächst und dass sie sich zum Entscheidungskampf gegen die Selbstherrschaft vorbereiten muss.
Nachdem sich Engels mit Plechanows Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ bekannt gemacht hatte, schrieb er in einem seiner Briefe, er sei stolz darauf, dass unter der russischen Jugend eine Partei besteht, die sich aufrichtig und ohne Vorbehalte zu den großen ökonomischen und historischen Theorien von Marx bekennt.
Eine große Rolle in der Vorbereitung zur Schaffung einer marxistischen sozialdemokratischen Partei in Russland spielten zwei Programmentwürfe der russischen Sozialdemokraten, die von der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ausgearbeitet worden waren. In diesen Programmentwürfen jedoch, wie auch in einigen anderen Arbeiten Plechanows, waren schwerwiegende Fehler enthalten. Plechanow war der Meinung, dass die Bauernschaft kein Verbündeter des Proletariats im Kampf gegen sie Selbstherrschaft sein könne, er berücksichtigte nicht, dass nur im Bündnis mit der Bauernschaft die Arbeiterklasse den Sieg über den Zarismus erringen kann. Zur gleichen Zeit hielt er die liberale Bourgeoisie für eine ernsthafte revolutionäre Kraft. Diese Fehler führten dazu, dass in der Folgezeit Plechanow Menschewik wurde und gegen Lenin und die Bolschewiki kämpfte.
Anfang der 1880er Jahre, unter dem Einfluss der fortschrittlichen revolutionären Arbeiter, begann die Arbeiterklasse mutiger für die Verteidigung ihrer Interessen aufzutreten. In den zehn Jahren von 1870 bis 1880 fanden mehr als 200 Streiks statt. Ein besonders großer Streik wurde im Jahre 1878 in der neuen Baumwollspinnerei in Petersburg durchgeführt. An diesem Streik nahm der Arbeiter Peter Mojsejenko teil, der später eine hervorragende Rolle bei dem Streik in der Morosowfabrik in Orchechowo-Sujewo im Jahre 1885 spielte.
Der Streik in der Morosowfabrik zeigte die Geschlossenheit und die kameradschaftliche Solidarität der Arbeiter. Er hatte bereits seine Organisatoren und Leiter. Einer von ihnen war der Weber Peter Anissimowitsch Mojsejenko. Er eben erst aus der Verbannung zurückgekehrt, wohin er als Mitglied des „Nordbundes russischer Arbeiter“ wegen Teilnahme an den Petersburger Streiks verschickt worden war. Gemeinsam mit den ortsansässigen Arbeitern Luka Iwanow und Wassilij Wolkow arbeitete Peter Mojsejenko für die Arbeiter ein Programm ihrer Forderungen aus. Dieses Programm wurde auf geheimen Versammlungen der Arbeitervertreter durchgesprochen und den Fabrikanten vorgelegt. Der Streik dauerte acht Tage und zeichnete sich durch große Hartnäckigkeit aus. Er wurde gebrochen, nachdem die Polizei sämtliche Führer und 600 aktive Teilnehmer am Streik verhaftet hatte. Mojsejenko, Luka Iwanow, Wassilij Wolkow und andere Arbeiter wurden dem Gericht übergeben. Vor Gericht wurden derartig ungeheuerliche Zustände in der Morosowfabrik festgestellt, dass selbst die für dieses Gericht besonders ausgewählten Geschworenen gezwungen waren, die Unschuld der Streikführer anzuerkennen.
Der Streik bei Morosow war der größte von allen vorhergegangen. Er bedeutete den Beginn einer Massenbewegung der Arbeiter. Die Spontanität der Streiks fing an, durch ihre organisierte Durchführung ersetzt zu werden. In den Forderungen der Streikenden ertönten nun nicht mehr das jammernde Flehen und Bitten, sondern die machtvollen Forderungen der neuen revolutionären Klasse, die begonnen hatte, sich ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusst zu werden.
Der Streik bei Morosow erschreckte den Zaren Alexander III. und seine Minister. Im Jahre 1886 wurde ein Gesetz über die Geldstrafen und die Lohnbücher erlassen. Nach diesem Gesetz sollten die Strafgelder nicht den Fabrikanten zugutekommen, sondern für die Bedürfnisse der Arbeiter selbst verwendet werden. Der Streik hatte dem Zarismus gezeigt, dass die Arbeiterklasse eine drohende Macht werden kann. Im Streik bei Morosow trat das Proletariat zum ersten Mal als fortschrittliche Kraft der revolutionären Bewegung auf.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
Nach der Niederlage der Pariser Kommune im Jahre 1871 fanden in Westeuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine großen revolutionären Aktionen statt. Die Erste Internationale (die Internationale Arbeiter-Assoziation) fiel faktisch auseinander. In den einzelnen kapitalistischen Ländern (Frankreich, Deutschland, England) wurden selbstständige Arbeiterparteien geschaffen. Im Jahre 1889 vereinigten sich die Vertreter der Arbeiterparteien und organisierten die Zweite Internationale. Jedoch nach dem Tod von Engels im Jahre 1895 verstärkten sich in den Parteien der Zweiten Internationale die Elemente, die Anhänger einer Verständigung mit der Bourgeoisie waren. Die Führer der Zweiten Internationale und die von ihnen geleiteten Parteien verzichteten auf den revolutionären Kampf: sie waren der Ansicht, dass die Arbeiter ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchsetzen können. Deshalb beharrten sie auf dem Weg der Reform, aber nicht der Revolution.
Vom Ende des 19. Jahrhunderts an verlagerte sich der Schwerpunkt des revolutionären Kampfes des Proletariats nach Russland. Die junge, aber sich schnell entwickelnde Arbeiterklasse Russlands begann den revolutionären Kampf gegen den Zarismus und gegen den Kapitalismus. Im Vergleich zu den Arbeitern in Westeuropa machte die russische Arbeiterklasse eine beschleunigte politische Erziehung durch. Unter den Verhältnissen des Zarismus verwandelten sich die Streiks schnell in Werkzeuge des politischen Kampfes des Proletariats, d.h. sie waren nicht nur gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die Selbstherrschaft gerichtet.
Den revolutionären Kampf des Proletariats leitete von Beginn der 1890er Jahre Wladimir Iljitsch Lenin.

Der künftige Führer des russischen und des Weltproletariats wurde am 10. (22.) April 1870 in Simbirsk (später Uljanowsk) geboren. Lenins Vater, Ilja Nikolajewitsch Uljanow, war Pädagoge. Er hatte große Achtung vor Tschernyschewskij und Dobroljubow und liebte besonders die Gedichte von Nekarassow. Die Liebe und Achtung gegenüber den revolutionären Demokraten übertrug Ilja Nikolajewitsch auch auf seine Kinder.
Die Familie Uljanow war groß und hielt zusammen. Der Vater erzog die Kinder zu wahrheitsliebenden, rechtschaffenen und arbeitsamen Menschen.
Lenins älterer Bruder Alexander war Revolutionär – „Narodowolez“. Im Jahre 1887 nahm er an dem Anschlag auf den Zaren Alexander III. teil, wurde verhaftet und hingerichtet.
Lenin hatte damals begriffen, dass für den Sieg der Revolution der Kampf einzelner Revolutionäre ungenügend, dass die Entwicklung der Massenbewegung der Werktätigen notwendig ist. „Nein, wir werden diesen Weg nicht beschreiten, nicht auf diesem Weg muss man gehen“, sagte Lenin nach der Hinrichtung seines Bruders.
Wladimir Iljitsch zeichnete sich von Kindheit an durch hervorragende Fähigkeiten aus. Er beendete erfolgreich- mit der Goldenen Medaille – das Gymnasium in Simbirsk und bezog im Jahre 1887 die Universität Kasan. Hier nahm der junge Lenin an den Studentenunruhen teil, wofür er anfangs verhaftet, später aber von der Universität ausgeschlossen und in das Dorf Kokuschkino verbannt wurde. Bei der Verhaftung entspann sich zwischen Lenin und dem Polizeioffizier folgendes Gespräch: „Wozu rebellieren Sie, junger Mann? Sie stehen vor einer Mauer.“- „Vor einer Mauer, ja, aber vor einer baufälligen, man braucht nur hineinzustoßen, da fällt sie zusammen“, antwortete ihm Lenin.
Nach einem Jahr wurde Lenin gestattet, sich wieder in Kasan niederzulassen. Hier nahm er an der Arbeit eines revolutionären Zirkels aktiven Anteil. Alle freie Zeit verbrachte Lenin hinter Büchern. Seine große Arbeitsfähigkeit, seine Beharrlichkeit und Diszipliniertheit bei der Arbeit erwarb sich Lenin schon in seinen Kinder- und Jugendjahren.
Im Jahre 1889 siedelte Wladimir Iljitsch nach Samara (später die Stadt Kujbyschew) über, wo er länger als vier Jahre lebte. Das waren Jahre des beharrlichen Lernens. Lenin, der sich auf den revolutionären Kampf vorbereitete, studierte gründlich die Arbeiten der Begründer des Marxismus. „Das Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels übersetzte Lenin aus der deutschen in die russische Sprache, und es wurde dann in Lenins Übersetzung in den Zirkeln der Samarer revolutionären Jugend studiert. In Samara organisierte Lenin den ersten Marxistenzirkel, und dort bildete sich endgültig seine marxistisch-revolutionäre Weltanschauung. Auf der Grundlage eines sorgfältigen Studiums statistischen Materials schrieb Lenin seine erste wissenschaftliche Arbeit über die Bauernschaft in Russland. Aber Samara, wo es fast kein Proletariat gab, konnte keinen Spielraum für eine revolutionäre Betätigung bieten. Daher siedelte der 23jährige Lenin im Jahre 1893 nach der Hauptstadt Russlands, nach Petersburg, über, welches zugleich das größte proletarische Zentrum war.
Unter den Petersburger Marxisten nahm Lenin sofort eine führende Stellung ein. „Wir haben ihn einstimmig, widerspruchslos und stillschweigend als unseren Führer anerkannt“, so erzählt einer der Petersburger Marxisten. Durch sein gewaltiges Wissen zeichnete sich Lenin im Kreise aller jungen Marxisten aus. Aber besonders gewann er sich die Hörer des Zirkels durch eine tiefe Überzeugung und den glühenden Glauben an den Sieg der Arbeiterklasse. „Wir sahen, wir fühlten stets eine ungewöhnliche Kraft der Überzeugungen, einen tiefen Ideenreichtum in Ihm“. Erinnerte sich einer der Teilnehmer seines Zirkels. „Wir sahen, dass er in allen seinen Überlegungen, was immer sie auch betrafen, nur von einem Gedanken ausging, von dem Gedanken des Kampfes der russischen Arbeiterklasse für die Revolution, für den Sozialismus; und dieser Idee gab er sich ganz hin, für Ihn gab es keine anderen Interessen außer jenen, die damit verbunden waren, kein anderes Leben außer jenem, das er völlig dieser Idee gewidmet hatte.“
Lenin trat entschlossen gegen die liberalen Volkstümmler auf, deren Ideen zu jener Zeit weit verbreitet waren. Er schrieb damals sein erstes großes theoretisches Werk: „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in dem er die Anschauungen der Volkstümler einer vernichtenden Kritik unterzog. In dieser Broschüre sagte Lenin voraus, dass sich gerade das Proletariat an die Spitze des Kampfes um den Sturz der Selbstherrschaft, um die Liquidierung der Leibeigenschaft in Russland und um den Sieg der sozialistischen Revolution stellen wird.
Im Herbst 1893 stellte Lenin eine enge Verbindung mit den fortschrittlichen Petersburger Arbeitern her. Die Arbeiterbewegung tat zu jener Zeit einen neuen Schritt vorwärts.
Der industrielle Aufschwung der 1890er Jahre führte ein zahlenmäßiges Anwachsen der Großunternehmungen und der Arbeiterschaft herbei. Die Streikbewegung ergriff breitere Schichten der Arbeiter. Von 1895 bis 1899 streikten nicht weniger als 221 000 Arbeiter.
Zu jener Periode entstand in Petersburg unter Lenins Führung die revolutionäre Arbeiterorganisation unter der Bezeichnung „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Dieser „Kampfbund“ stellte, wie Lenin bemerkte, den ersten bedeutsamen Keim einer revolutionären Partei, die sich auf die Arbeiterbewegung stützt, dar.
Ende 1894 warf Lenin die Frage auf, dass es notwendig sei, von der Arbeit in den Zirkeln (von der Propaganda) zu einer umfassenderen Tätigkeit unter den Arbeitern (zur Agitation) überzugehen. Ungeachtet des Widerstandes eines Teiles der Intelligenzler wurde Lenins Vorschlag gutgeheißen.
Der „Kampfbund“ begann im Zusammenhang mit den Streiks in den einzelnen Betrieben Agitationsflugblätter herauszugeben.
Im Frühjahr 1895 führ Lenin ins Ausland, wo er mit Plechanow zusammentraf. Nach seiner Rückkehr nach Russland stellte die Polizei ihn und andere Mitglieder des „Kampfbundes“ unter verschärfte Beobachtung. In der Nacht vom 8. Zum 9. Dezember 1895 wurden bei vielen Mitgliedern des „Kampfbundes“ Haussuchungen durchgeführt, einige wurden verhaftet, darunter Lenin. Aber selbst aus dem Gefängnis setzte er die Leitung des „Kampfbundes“ fort. Von Ende 1895 an organisierte der „Kampfbund“ Streiks und leitete sie. Im Jahre 1896 wurde unter der Leitung des „Kampfbundes“ ein Streik organisiert, der 30 000 Petersburger Weber erfasste. Während des Streiks gab er „Kampfbund“ 13 Flugblätter heraus. Im Gefängnis schrieb Lenin eine Broschüre über die Streiks. Unter dem Einfluss der revolutionären Marxisten lernten die Arbeiter die politische Lage und die Aufgaben der Arbeiterklasse begreifen und den Kampf für ihre Interessen führen. Im Jahre 1897 wurde Lenin für drei Jahre nach dem Dorf Schuschenskoje im Gouvernement Jenissejsk verbannt. Im Gefängnis und in der Verbannung arbeitete er an dem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. In ihm zeigte er, dass Russland auf dem kapitalistischen Weg fortschreitet und dass der Kapitalismus eine neue revolutionäre Macht – das Proletariat- erzeuge.
In dem von ihm verfassten Programmentwurf der Partei begründete er die Notwendigkeit des Kampfes der russischen Arbeiter für den demokratischen Aufbau des gesamten Lebens in Russland, der ihnen einen weiteren Kampf für den Sozialismus erleichtern würde. Diese Vereinigung demokratischer und sozialistischer Aufgaben im Programm der Arbeiterpartei fand ihren Widerhall auch in der Bezeichnung: „Sozialdemokratische Partei“. Der Versuch eine Partei zu gründen, war schon unternommen worden, als Lenin sich noch in der Verbannung befand. Im Jahre 1898 fand in Minsk die erste Tagung der Sozialdemokraten statt. Auf dieser Tagung wurde die Bildung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verkündet. Aber nach der Tagung wurden die Mitglieder des Zentralkomitees und die Mehrzahl der Teilnehmer am Parteitag verhaftet.
Jedoch konnten keinerlei Verfolgungen die sich schnell entwickelnde revolutionäre Bewegung in Russland aufhalten.
Lenin wies darauf hin, dass der Kapitalismus in Russland sich nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Breite entwickele. Dies bedeutete seine Verbreitung in neue Gebiete. Nach der Reform von 1861 wurde auch Transkaukasien in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung mit hineingezogen. Dort entstanden die ersten Fabriken und Werke. Die Erdölstadt Baku, ein großes Industrie- und Arbeiterzentrum Transkaukasiens, fing an, sich schnell zu entwickeln. Eine wichtige ökonomische Bedeutung für den gesamten Kaukasus hatte der Bau der transkaukasischen Eisenbahn. Im Jahre 1871 wurde der Eisenbahnverkehr zwischen Poti und Tiflis eröffnet.
In Transkaukasien begann sich eine eigene Arbeiterklasse zu bilden. Eine große Rolle in der revolutionären Bewegung spielten die Eisenbahner. Vom Jahre 1887 an begannen die Arbeiter der Tifliser Eisenbahnwerkstätten als Anführer des Kampfes aufzutreten. Unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung fingen auch die georgischen Bauern an, sich zum Kampf zu erheben. Der Führer und Leiter der Arbeiter und Bauern in Georgien und im gesamten Transkaukasien war von Ende der 1890er Jahre an J.W. Stalin.

Josef Wissarionnowitsch Stalin (Dshugaschwili) wurde am 9.(21.) Dezember 1879 in der Stadt Gori geboren. Sein Vater war Arbeiter in der Schuhfabrik in Tiflis, seine Mutter arbeitete als Tagelöhnerin.
Im Jahre 1894 absolvierte J.W. Stalin die geistliche Schule in Gori und trat in das geistliche Seminar in Tiflis ein. In dem Seminar verfolgten und erstickten viele Erzieher und Lehrer alles Lebendige. Stalin schrieb später darüber: „Ihre Hauptmethode ist die Bespitzelung, das Sicheinschleichen in die Seele, Verhöhnung. Was kann daran Positives sein? Zum Beispiel Spitzelei im Pensionat: um neun Uhr das Glockenzeichen zum Tee, wir gehen ins Esszimmer, und als wir dann wieder in unsere Zimmer kommen, stellt sich heraus, dass man während dieser Zeit eine Haussuchung vorgenommen und alle unsere Kästen mit den Sachen durchwühlt hat… Aus Protest gegen dieses System der Verhöhnung und die jesuitischen Methoden, die im Seminar herrschten, war ich bereit, Revolutionär zu werden und wurde tatsächlich Revolutionär, Anhänger des Marxismus als einer wirklich revolutionären Lehre.“
Vom 15. Lebensjahr an betätigte sich J.W. Stalin revolutionär, nachdem er sich mit der illegalen Gruppe der russischen Marxisten in Tiflis verbunden hatte. Im Seminar arbeitete er viel an seiner marxistischen Schulung. Bald begann J.W. Stalin selbst illegale marxistische Zirkel zu leiten, in denen die Werke von Marx und Engels, von Belinskij und Tschernyschewskij, von Pissarew und Plechanow studiert wurden. Einst wurde mit großer Mühe der erste Band des „Kapitals“ erworben, mit der Hand abgeschrieben und an Hand der handschriftlichen Kopie im Zirkel studiert.
Im Jahre 1898 machte sich Stalin mit Lenins Werken bekannt. Schon damals entstand in ihm der heiße Wunsch, mit dem Führer der russischen Arbeiterklasse persönlich bekannt zu werden. „Ich muss ihn sehen“, sagte er zu seinen Genossen.
Im Jahre 1899 wurde J.W. Stalin aus dem geistlichen Seminar wegen marxistischer Propaganda ausgeschlossen. Von dieser Zeit an wurde er Berufsrevolutionär und widmete alle seine Kräfte dem Kampf für die Sache der Arbeiterklasse.
Die Entwicklung des Kapitalismus und das Anwachsen der Arbeiterklasse in Georgien führte zur Entstehung der ersten marxistischen georgischen Organisationen. Den Marxismus in Transkaukasien begannen als erste die russischen Sozialdemokraten, die von der zaristischen Regierung dahin verschickt worden waren, zu verbreiten. Im Jahre 1893 war in Georgien die erste marxistischen Organisation „Messame-Dassi“ (die 3. Gruppe) entstanden. Ihr gehörten sowohl Anhänger eines entschlossenen Kampfes gegen den Zarismus als auch Gegner eines solchen offenen Kampfes der Arbeiterklasse an. Im Jahre 1898 schloss sich die revolutionäre Minderheit dieser Gruppe unter der Führung von Alexander Zulukidse, Lado Kezchoweli und Josef Stalin zusammen, welche von der engen Propaganda innerhalb der Zirkel zur Massenagitation und zum politischen Kampf gegen die Selbstherrschaft überging. Die Organisation spaltete sich. Die revolutionäre Minderheit, geführt von J.W. Stalin, bildete eine neue marxistische Gruppe, die die Keimzelle der revolutionären sozialdemokratischen (der künftigen bolschewistischen) Organisation in Transkaukasien war.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa
Das zaristische Russland beschritt später als die Länder Westeuropas den Weg der kapitalistischen Entwicklung. Zu jener Zeit, als im Westen – in England, Frankreich und Deutschland – die Maschinengroßindustrie schnell anwuchs und mit ihr zusammen auch das Proletariat, herrschte in Russland noch die wenig produktive, unfreiwillige Leibeigenenarbeit. Nach der Reform des Jahres 1861 begann sich der Kapitalismus in der Industrie und der Landwirtschaft schneller zu entwickeln.
In den ersten Jahrzehnten nach der Reform wurden vor allem im Eisenbahnbau Kapitalien investiert. Von 1861 bis 1881 wurden mehr als 19 000 Kilometer Eisenbahnen gebaut. Für den Eisenbahnbau waren Stahl- und Eisenerzeugnisse notwendig. Dies bewirkte eine Belebung der metallurgischen und eisenverarbeitenden Industrie.
Im Jahre 1871 wurde der erste Hochoffen in der Ukraine in Jusoka (später Stalino) angeblasen.
(Die Stadt wurde 1924 zu Ehren Stalins in Stalino umbenannt. Nach dem Tod Stalins und als Stalin verdammt wurde, hatte man im Jahre 1961 die Stadt in Donezk umbenannt. Diese Stadt liegt im Donbas. Von 2014 bis 2022 war Donezk die Hauptstadt der Volksrepublik Donezk, die mit Russland verbündet war. Seit 2022 gehört die Volksrepublik Donezk zur Russischen Föderation, wobei Donezk weiterhin ihre Hauptstadt ist. Die Ukraine beansprucht dieses Gebiet für sich. Siehe Wikipedia und den KI-Text P.R.) Für KI-Text Stalino im Browser eingeben.
Die im Süden gelegenen Werke begannen Schienen und andere Gegenstände für den Eisenbahnbau herzustellen, die früher aus dem Ausland eingeführt wurden. Die Förderung von Steinkohle in der Ukraine erhöhte sich in der gleichen Zeit um das 15fache.
Im Süden Russlands entstand ein neuer Industriebezirk: das Donez-Steinkohlebecken (Donbass).
Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.
Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.
Die Abschaffung der Leibeigenschaft begünstigte das Eindringen des Kapitalismus auch auf dem Land. Die Gutswirtschaften verwandelten sich allmählich in kapitalistischen Wirtschaften. Ein Teil der Gutsbesitzer konnte sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen und wurde ruiniert. Ihr Land kauften die Kulaken (die reichen Bauern) auf. Im Dorf nahm die Klassenschichtung zu. Es sonderte sich der kleine Teil der reichen Bauern, der Kulaken aus; die Mehrzahl der Bauern setzte sich aus armen Kleinbauern und Mittelbauern zusammen.
Die Gutsbesitzer verpachteten das Land in großen Flächen an die Kulaken für einige Jahre, die Kulaken ihrerseits verpachteten es an die mittellosen Bauern gewöhnlich auf ein Jahr. Der Mangel an Land bei der übergroßen Masse der Bauern zwang sie, Land zu pachten oder sich als Knechte den Kulaken und Gutsbesitzern zu verdingen. Für die Pacht mussten die Bauern mit ihrem eigenen Inventar das Land des Gutsbesitzers oder des Kulaken bearbeiten. Es waren dies die alten leibeigenen Frondienste in der neuen Form der Abarbeit. Eine andere Form dieses Frondienstes war die Halbpacht, bei der die Bauern für das gepachtete Land die Hälfte ihres Ernteertrages in natura abgeben mussten. Das Ergebnis war, dass die Bauern ruiniert wurden und viele als Knechte sich verdingten oder in die Stadt nach Arbeit gingen. Die Überbleibsel der Leibeigenschaft hinderten die Entwicklung des Kapitalismus. Dies hatte zur Folge, dass Russland hinter den anderen kapitalistischen Ländern zurückblieb.
Nichtsdestoweniger entwickelte sich der Kapitalismus in Russland unaufhaltsam weiter. Lenin schrieb, indem er das Fazit aus den Erfolgen des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts zog: „Das Russland des Hakenpfluges und des Dreschflegels, der Wassermühle und des Handwebstuhles begann sich schnell in das Russland des Pfluges und der Dreschmaschine, der Dampfmühle und des Dampfwebstuhles zu verwandeln.“
Mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland war, wie auch in anderen Ländern, das Aufkommen der Arbeiterklasse und das Entstehen einer Arbeiterbewegung verbunden. Als Ergebnis der Reform des Jahres 1861 wurden 10 Millionen Bauern von der leibeigenen Abhängigkeit befreit. Viele von ihnen gingen, da sie nicht mit Land versorgt waren, in die Fabriken und Werke, zu den Eisenbahnarbeiten, zu verschiedenen Bauunternehmen, sowie als Knechte zu den Kulaken und Gutsbesitzern. Innerhalb von 20 Jahren (1861 bis 1881) verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter in Russland und stieg auf 668 000. Die neuen Unternehmungen zeichneten sich durch große Ausmaße aus. Ende des 19. Jahrhunderts waren auf den Unternehmungen mit mehr als je 1000 Arbeitern mehr als ein Drittel sämtlicher Arbeiter Russlands beschäftigt. Die gemeinsame Arbeit in großen Unternehmungen begünstigte den Zusammenschluss der Arbeiterschaft, und der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeuter entwickelte in ihnen kämpferische, revolutionäre Eigenschaften. Auf diese Weise formte sich eine neue Gesellschaftsklasse: das Proletariat, das sich von Grund aus von den leibeigenen Arbeitern und kleinen Handwerkern unterschied.
Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter waren äußerst schwer. Der Arbeitstag war nicht gesetzlich geregelt. Nicht selten erreichte er 15 bis 16 Stunden. Der Arbeitslohn war erbärmlich. Besonders niedrig wurde die Frauenarbeit bezahlt. Für eine der Männerarbeit gleichwertige Arbeit erhielt die Frau einen geringeren Arbeitslohn. Die Arbeit der Jugendlichen und Kinder wurde noch schlechter bezahlt. Die Arbeit der Jugendlichen z.B. in der Krenholmer Textilmanufaktur dauerte von früh vier Uhr bist acht Uhr abends. Bei einer 16stündigen Tagesarbeit erhielten sie 4 Rubel im Monat. Aber ausgezahlt bekamen sie nur 8 Kopeken. Der Eigentümer der Fabrik behielt für Unterhalt der Jugendlichen 6 Rubel und 50 Kopeken im Monat ein. Auf diese Weise blieb der jugendliche Arbeiter dem Fabrikanten, nachdem er einen Monat gearbeitet hatte, noch 2 Rubel 58 Kopeken schuldig. Diese Schuld musste er abarbeiten, sobald er ein selbstständiger Arbeiter geworden war.
Die Fabrikanten bestraften die Arbeiter erbarmungslos. Die Strafen wurden völlig willkürlich auferlegt. Oft betrogen die Fabrikanten die Arbeiter bei der Auszahlung des Arbeitslohnes, gaben ihnen an Stelle von Geld minderwertige Produkte aus dem Fabrikladen und berechneten sie zwei- bis dreimal teurer, als diese auf dem Markt kosteten. Außerordentlich schlecht waren die Wohnverhältnisse. In jeder der kleinen Kammern der Arbeiterkasernen waren mehrere Familien untergebracht.
Über die unerträgliche Lage der Arbeiter gibt die Semstwo-Sanitätskommission, die zu Beginn der 1880er Jahre in Ursachen der Arbeiterunruhen in der Chludowmanufaktur (an der Station Jarzewo der Moskau-Brester Eisenbahnlinie gelegen) untersuchte, in ihrem Bericht Zeugnis:
„Die Millionenfabrik (Chludows), eine Brutstätte jedweder Seuche, erscheint zur gleichen Zeit als das Muster der erbarmungslosen Ausbeutung der Volksarbeit durch das Kapital. Die Arbeit in der Fabrik findet unter äußerst ungünstigen Bedingungen statt: Die Arbeiter müssen den Baumwollstaub einatmen, sind der Einwirkung der erdrückenden Hitze bis 28,2 O R. ausgesetzt und haben auch noch den erstickenden Geruch zu ertragen, der aus den schlecht angelegten Retiraden sich verbreitet. Die Fabrikleitung erklärte, dass sie keine Verbesserung dieser Retiraden aus dem Grunde vornimmt, weil im entgegengesetzten Falle, bei der Abstellung der üblen Ausdünstungen, diese Orte sich in Erholungsorte für die Arbeiter verwandelt würden, und man diese dann von dort mit Gewalt herausjagen müsste. Wie müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in dieser Fabrik gewesen sein, wenn sogar die Retiraden zu Erholungsorten werden konnten!
Tag und Nacht wird gearbeitet. Jeder muss zwei Schichten am Tag arbeiten, alle sechs Stunden wird Pause gemacht, so dass der Arbeiter niemals ganz ausschlafen kann. Die Arbeiter werden in der Nähe der Fabrik in einem großen feuchten Gebäude in der dritten Etage untergebracht, das, gleich einer gewaltigen Menagerie, in Käfige und Kammern eingeteilt ist, die schmutzig und stinkig, von dem Geruch der Aborte (altes Wort für Toilette P.R.) geschwängert sind. In diese Kammern sind die Bewohner hineingepfropft, wie Heringe in der Tonne.“
Die Arbeiter in der Fabrik Chludows wurden auf ein Jahr gedungen. In ihren Arbeitsbüchern war angegeben, dass sie nicht das Recht hatten, die Fabrik vor Ablauf eines Jahres zu verlassen. Die Fabrikverwaltung aber konnte den Arbeiter zu jeder beliebigen Zeit auf die Straße setzen. Den Lohn erhielten die Arbeiter nicht in Gestalt von Geld, sondern in Gestalt von Lebensmitteln und Kleidung aus dem Laden des Arbeitgebers.
Einer besonders grausamen Ausbeutung waren in dieser Fabrik die Kinder und Jugendlichen, die fast die Hälfte der gesamten Belegschaft ausmachten, ausgesetzt. Laut Zeugnis des Semstwoarztes waren die Kinder so überanstrengt, dass sie bei einer als Folge einer Körperversetzung etwa notwendig machenden Operation ohne jede Narkose einschliefen.
Strafen und Abzüge jeglicher Art verringerten den Arbeitslohn um einen beträchtlichen Teil.
Die Lage der Arbeiter in der Fabrik Chludows war kein Ausnahmefall.
Eine fürchterliche Ausbeutung der Arbeiter in den Fabriken und Werken des zaristischen Russlands war eine übliche und überall anzutreffende Erscheinung. Sie verschaffte den Fabrikanten und Werkbesitzern gewaltige Profite, die Arbeiter überanstrengte sie, machte sie zu Invaliden und führte zu vorzeitigem Tod. In Russland, wie auch überall, wuchs der Kapitalismus auf den Knochen und dem Blut der Arbeiter.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa



Im 19. Jahrhundert waren Russland und Westeuropa bei weitem enger verbunden als im vorhergehenden Jahrhundert.
Während des Krieges mit Napoleon im Jahre 1812 und in der Zeit der europäischen Feldzüge 1813 bis 1815 lernte Europa Russland und Russland Europa näher kennen. Die Völker Europas verfolgten den heroischen Kampf des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit mit Begeisterung. Die russischen Menschen bangten um das Schicksal ihres Vaterlandes. In ihnen wuchs das Streben, ihr Vaterland frei, gebildet und glücklich zu machen. „Jeder fühlte, dass er berufen ist, an der großen Aufgabe mitzuwirken“-bezeugte der Dekabrist Jukuschkin. „Wir waren Kinder des Jahres 1812“ – so erklärte der Dekabrist Murawjow-Apostol die Entstehung seines Freidenkertums.
Auf diese Weise gaben der Vaterländische Krieg des Jahres 1812 und die darauffolgenden Feldzüge in Europa der Erweckung des Nationalbewusstseins des russischen Volkes einen starken Anstoß. Die Gefahren des Jahres 1812 erweckten die russische Nation, schrieb späterhin Tschernyschewskij.
Die Liebe zum Vaterland war bei den russischen Menschen von dem leidenschaftlichen Streben durchdrungen, Russland zu reformieren und es in die Reihe der fortschrittlichen Länder zu stellen. Der Kampf um die Aufklärung Russlands wurde das allgemeine Programm aller fortschrittlichen Menschen des Landes. Der Menschenverstand wurde als jene Kraft anerkannt, die das in Unwissenheit und Unterdrückung schmachtende Russland auf den Weg der Freiheit führen sollte.
Der allgemeine Hang zur Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte auch nicht ohne Auswirkung auf die Maßnahmen der Regierung im Bildungswesen bleiben. Im Jahre 1802 wurde ein Ministerium für Volksaufklärung, Jugenderziehung und Verbreitung der Wissenschaften geschaffen. Zwar war das Ministerium von dem sich im Lande weithin entfaltenden „Freidenkertum“ sehr beunruhigt, jedoch „der Geist der Zeit“ zwang es, sich mit der Einführung der Bildung zu beschäftigen.
Außer der bereits von Lomonossow geschaffenen Moskauer Universität wurden im Jahre 1804 die Universitäten in Kasan, Charkow, Wilno und Derpt (Dorpat) errichtet.
Die Universitäten sollten Bildungszentren des Landes werden. Um sie herum wurden wissenschaftliche Gesellschaften geschaffen. Die besten Professoren und Gelehrten des Landes hielten in den Universitäten Vorlesungen, schrieben Lehrbücher. Die führende Rolle sowohl im wissenschaftlichen als auch im gesellschaftlichen Leben spielte die Moskauer Universität. Selbst nach der Niederwerfung des Dekabristenaufstandes, als die zaristische Regierung das Bildungswesen stark beengte, bewahrte die Moskauer Universität auch weiterhin diese Rolle.
Die zaristische Regierung, die das Anwachsen von Bildung für gefährlich hielt, war bemüht, den Zutritt der Rasnotschienzy in die Schulen, Gymnasien und Universitäten zu beschränken. In den Gymnasien und Universitäten wurde eine hohe Unterrichtsgebühr, die für die Rasnotschienzy unerschwinglich war, eingeführt. An jeder Universität wurde die Zahl der Studenten stark vermindert. Das Lehrprogramm wurde überprüft, um aus ihm „den Geist des Freidenkertums“ auszurotten.
Die zaristische Regierung konnte jedoch das mächtige Streben des russischen Volkes nach Wissen und Fortschritt nicht aufhalten. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft war das Bedürfnis des Landes nach Bildung noch mehr gewachsen. Der Kapitalismus erforderte gelernte Arbeiter, fähige Techniker und kundige Ingenieure. Die Semstwos eröffneten in den Dörfern die Semstwoschulen. In den Städten erhöhte sich die Zahl der städtischen Schulen und der Gymnasien. In den 1860er Jahren wurde das erste Mädchengymnasium errichtet, in den 1870er Jahren wurden in Petersburg die Akademischen Frauenkurse, die den Grund zur akademischen Ausbildung der Frauen legten, geschaffen. Dem Bedarf der Kapitalisten an technischem Personal Rechnung tragend, eröffnete das Finanzministerium am Ende des 19. Jahrhunderts drei polytechnische Institute und eine beträchtliche Anzahl von mittleren Handels- und technischen Schulen. Die Entwicklung der mittleren und Hochschulbildung, der allgemeinen und speziellen Bildung förderte das Wachstum der russischen Wissenschaft.
Die Entwicklung der russischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert zeitigte große Erfolge, die sie nicht nur auf gleiche Stufe, sondern in vielem an die Spitze der Wissenschaft Westeuropas stellten.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkte sich in Russland in ungewöhnlichem Maße das Interesse an den „politischen Wissenschaften“, insbesondere an der Geschichtswissenschaft.
Der russische Historiker Karamsin gab im Jahre 1818 die ersten Bände seines Werkes „Geschichte des Russischen Reiches“ heraus. Ungeachtet dessen, dass der Autor reaktionäre, monarchistische Ansichten verfocht, machten sich die russischen Menschen nach diesen Büchern mit starkem Interesse mit der großen Vergangenheit ihres Vaterlandes bekannt. Puschkin, der dieses Verdienst Karamsins hervorhob, dass Karamsin die Geschichte Russlands ebenso entdeckte wie Kolumbus Amerika.
Nach Karamsin arbeiteten viele russische Gelehrte an der Erforschung der Geschichte Russlands. Das hervorragensde Geschichtswerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das vielbändige Werk des berühmten russischen Historikers Solowjów „Geschichte Russlands von den ältesten Zeiten an“.
Die russischen Gelehrten erforschten die Vergangenheit und Gegenwart ihres Landes und seine natürlichen Reichtümer. Damit beschäftigten sich die russischen wissenschaftlichen Geographen. Die kolossalen Gebiete von der Ostsee bis zum Stillen Ozean und von der Arktis bis zum Schwarzen Meer wurden auf Karten eingetragen, in geographische Atlanten aufgenommen, mit Hilfe von wissenschaftlichen Expeditionen beschrieben und erforscht. Die russischen Geographen beschränkten sich aber nicht mehr auf die Erforschung des weiten russischen Landes. In den Jahren 1803 bis 1806 machte Krusenstern als erster Russe eine Reise um die Welt. In den Jahren 1819 bis 1821 gelangte die russische Expedition von Lasarew, die sich durch die Eismassen durchgeschlagen hatte, als erste bis zu den Ufern der Antarktis. Über den ganzen Stillen Ozean liegen Inseln verstreut, die bis auf den heutigen Tag (Stand 1947 P.R.) ihre russischen Bezeichnungen behalten haben:
Die Suworow-Insel, die Kutusow-Insel, die Sandbank „Beregisj“ usw.
Im Jahre 1871 gelangte der russische Gelehrte Miklucha-Maklaj bis zur Insel Neuguinea. Das war der erste Europäer, der zu einem Stamm der Papuas kam, sich unter ihnen einige Jahre aufhielt und ihre Lebensweise und Bräuche erforschte.
Die Expeditionen von Przewalskij, Pewzow, Potanin, Koslow drangen in das Innere von Zentralasien und lieferten der Weltwissenschaft ihren unschätzbaren Beitrag.
Die schöpferischen Ideen der russischen Gelehrten offenabarten sich im 19. Jahrhundert auf allen Wissensgebieten.
Die russische Wissenschaft begann mit den Arbeiten des genialen Lomonossow, der den Grund zu vielen Naturwissenschaften und exakten Wissenschaften legte. Seine Fortsetzer waren, gleich ihm, Aufklärer des russischen Volkes und neuer der Wissenschaft.
Einer von diesen Neuerern war der Professor der Universität Kasan, der geniale Mathematiker Lobatschewskij. Er stellte sein geometrisches System auf, das eine neue Vorstellung vom Raum gab. Der englische Mathematiker Sylvester nannte Lobatschewskij „den Kopernikus der Geometrie“.
In den Jahren 1802 bis 1803 entdeckte der russische Physiker Petrow unabhängig von den ausländischen Gelehrten die Elektrolyse die Grundlage der modernen Elektrochemie. Er entdeckte den Lichtbogen einige Jahre früher als die europäischen Gelehrten.
Die russischen Gelehrten und Erfinder wandte den elektrischen Strom als erste in der Praxis an. Im Jahre 1832 baute Schilling in Petersburg als erster in der Welt einen elektromagnetischen Telegraphen; er hatte ihn zwischen dem Ministerium der Verkehrswege und dem Winterpalast eingerichtet. Einige Jahre später wurde ein ähnlicher Apparat von den Engländern Whitestone und Cook erfunden und erhielt eine weltweite Verbreitung.
Im Jahre 1833 baute der Mechaniker Tscherepanow im Ural die erste russische Dampflokomotive einer originalen Bauart.
Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft waren günstigere Bedingungen für die Entwicklung der russischen Wissenschaft geschaffen. Die Gelehrten und Erfinder begegneten jedoch nach wie vor Hindernissen auf dem Wege zur Verwirklichung ihrer schöpferischen Ideen.
Der russische Erfinder Jablotschow konstruierte die erste elektrische Bogenlampe in der Welt. Im Jahre 1875 erleuchteten die „Jablotschkowkerzen“, die unter den regierenden Kreisen des zaristischen Russlands keinerlei Interesse hervorriefen, die Kaufläden und Straßen von Paris. Das von Jablotschkow erfundene elektrische Licht nannten die Franzosen „das russische Licht“. Der russische Elektrotechniker Popow hat als erster den Radiotelegraphen im Jahre 1895 erfunden, jedoch wurden für seine Versuchsanlagen keine Gelder bewilligt. Als Antwort auf das diesbezügliche Gesuch traf der Kriegsminister den Beschluss: „Für ein solches Hirngespinst bewillige ich keine Mittel.“ Der Italiener Marconi wiederholte später die Erfindung des russischen Gelehrten und erhielt volle Anerkennung.
Der hervorragende Mechaniker, der Vater des russischen Flugwesens, Shukowskij, führte erstmalig die Erforschung der Aerodynamik und der Theorie des Flugzeugbaus ein, seine Arbeiten fanden jedoch erst unter der Sowjetmacht Anwendung.

Der große Chemiker Mendelejew formulierte im Jahre 1869 das geniale Gesetz: „Die Eigenschaften der Elemente befinden sich in periodischer Abhängigkeit von ihrem Atomgewicht.“

Entsprechend diesem Gesetz stellte er die periodische Tabelle der Elemente zusammen, die einen gewaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Chemie ausübte. Die Eigenschaften jener Elemente, die in der Tabelle fehlten, wurden von Mendelejew genau vorhergesagt, und diese Elemente wurden in der Folgezeit entdeckt.
Mendelejew arbeitete auf den verschiedensten Gebieten der Naturkunde, er beschäftigte sich mit den Fragen der Entwicklung der Technik und der Industrie. Er war ein eifriger Anhänger der Errichtung mit fortschrittlicher Technik ausgerüsteten Fabriken und Werken in Russland, und er erblickte in der Industrialisierung des Landes einen Ausweg aus seiner Rückständigkeit. Mendelejew hielt Russland „für einen schlafenden Riesen, für den die Stunde des Erwachens angebrochen war“.
Mendelejew war als Gelehrter kein Einzelgänger wie Lomonossow, sondern Vertreter einer mächtigen wissenschaftlichen Bewegung, die das Russland des 19. Jahrhunderts auf einen der ersten Plätze der Weltwissenschaft stellte.
In der Reihe der Gelehrten von Weltbedeutung befinden sich die russischen Gelehrten I.M. Setschenow, I.I. Metschnikow, K.A. Timirjasew, I.P. Pawlow.

Der schöpferische Genius des russischen Volkes zeigte sich auf allen Gebieten der Kultur. Jedoch die größte Erhabenheit und Stärke erreichte er in der russischen Literatur. Schon im 18. Jahrhundert wies in der russischen Literatur viele ruhmvolle Namen auf: Lomonossow, Dershawin, Fonwisin, Radischtschew. Das 19. Jahrhundert setzte die ganze Welt durch den mächtigen Aufschwung der künstlerischen Literatur in Russland in Erstaunen. Der große proletarische Schriftsteller Maxim Gorki hebt ausdrücklich hervor, dass „keine einzige der Literaturen des Westens mit einer solchen Stärke und Schnelligkeit, in solch mächtigem, blendendem Glanze des Talentes ins Leben getreten ist….Nirgends hat sich in einer Zeitspanne von weniger als 100 Jahren ein solch helles Sternbild großer Namen, wie in Russland gezeigt“.
In diesem „Sternbild großer Namen“ gab es aber einen Stern erster Größe. Dies war der große russische Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin. Seine Bedeutung als nationaler Genius war schon von seinen Zeitgenossen begriffen worden. „Die Stimme des Volkes bezeichnete ihn als russischen nationalen Volksdichter“, schrieb Belinskij über Puschkin.

Puschkin war der Schöpfer der modernen russischen Literatursprache und sämtlicher Arten der russischen Literatur. Mit „Eugen Onegin“, die Enzyklopädie des russischen Lebens, wie Belinskij dieses Werk charakterisierte, legte er den Grund zum russischen Roman, mit der „Hauptmannstochter“ schuf er die erste russische historische Erzählung. Mit seiner Tragödie „Boris Godunow“ gab er das Vorbild für das russische historische Drama. Mit seinen lyrischen Gedichten pflanzte Puschkin, nach den Worten Turgenjews. „als erster mit kraftvoller Hand schließlich die Fahne der Poesie tief in die russische Erde“.
Puschkins Schaffen, vollendet in seiner Form, weist einen tiefen Ideengehalt auf. Seine Werke sind von Liebe und Mitgefühl der Unterdrückten, von Hass gegen die Tyrannen erfüllt. Die düsteren Bilder des Lebens im Lande der Leibeigenschaft weckten des Dichters Zorn und Tadel. Nach Radischtschew schrieb Puschkin die „Ode auf die Freiheit“, in der er zur Vernichtung der Selbstherrschaft aufrief. Mit dem Gedicht „Das Dorf“ brandmarkte Puschkin zornig „das Geschlecht von Herren, die jedes Recht verhöhnen“, das „sein Joch erbarmungslos dem Landmann aufs Genick“ legte.
Puschkin, der den Ideen der Dekabristen warme Sympathie entgegenbrachte, verfasste bemerkenswerte „Sendschreiben nach Sibirien“ und schickte es durch die Frau eines der Verurteilten an die verbannten Dekabristen. Er rief die Dekabristen auf, die Hoffnung nicht zu verlieren und bis zum Ende für die Sache der Freiheit einzutreten.
Die letzten Lebensjahre des großen Dichters vergingen in der qualvollen Atmosphäre von Verleumdungen, Denunziationen und Demütigungen. Im Jahre 1837 wurde er von Dantes, einem Offizier vom Zarenhof, im Duell getötet. In seinem Gedicht „Auf den Tod des Dichters“ brandmarkte Lermontow nicht nur den Mörder, sondern auch die Würdenträger, die den Thron umgaben.
Puschkins Beitrag zur Weltliteratur erkennen bis zum heutigen Tage die fortschrittlichen Menschen aller Länder an. Das Sowjetland ehrte seinen großen nationalen Dichter in hohem Maße. Puschkin war der beliebteste Dichter sämtlicher Völker der Sowjetunion.

Lermontow, der Nachfolger Puschkins, hielt es gleichfalls für die Pflicht des Dichters und Schriftstellers, dem Vaterland und der Freiheit zu dienen. In den Poemen „Mzyri“, „Das Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch“, „Dämon“ und im Roman „Ein Held unserer Zeit“ schuf Lermontow das Bild eines stolzen, freiheitsliebenden Menschen, der sich der Unterdrückung und dem zwang nicht fügen will. Der rebellische Held des Poems „Mzyri“ kennt „nur die eine, aber flammende Leidenschaft“: die Liebe zur Freiheit. Die Lermonontowschen Dichtungen, Verse und Romane sich erfüllt von heißer und eindringlicher Liebe zum Vaterland, von Mitgefühl für die Unterdrückten und von Hass gegen die Bedrücker.

In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts zeichnete der große russische Schriftsteller Gogol treffende und wahrheitsgetreue Bilder des russischen Lebens in seinen Werken. Seine genialen Schöpfungen „Der Revisor“, „Die toten Seelen“ und andere erschütternde, zornerfüllte Bilder des leibeigenen Russlands. Herzen schrieb über den Eindruck, den Gogols „Tote Seelen“ hervorriefen: „Die Toten Seelen‘ haben ganz Russland erschüttert. Eine solche Anklage war dem zeitgenössischen Russland notwendig. Die ist eine Krankheitsgeschichte, von Meisterhand geschrieben.“
In Gogols Werken „Der Revisor“, „Die toten Seelen“, „Der Mantel“ sind Typen geprägst worden, worin „unter dem sichtbaren Lachen“ des Dichters seine „der Welt unsichtbaren Tränen“ verborgen waren. Bei der Darstellung solcher Gestalten wie Tschitschikow, Sobakewitsch, Manilow und Chlestakow sah Gogol gleichzeitig schon ein neues Russland vor sich und sehnte sich danach, indem er rief: „Russland! Russland! Ich sehe dich von meiner wunderbaren, herrlichen Ferne, ich sehe dich!“ Gogol schuf aber auch positive Gestalten. Eine solche ist die des Sohnes des ukrainischen Volkes Bulba.
Der große Satiriker Saltykow-Schtschedrin entlarvte in seinen Werken boshaft und treffsicher die Gutsbesitzer, die Beamten, die aufkommende Bourgeoisie. In der „Geschichte einer Stadt“, in den „Herren Golowljow“, in den „Erzählungen aus dem alten Poschechonien“ zeichnete Saltykow ein markantes Bild des Verfalls der leibeigenen Gesellschaftsordnung.

Der Dramatiker Ostrowskij zeigte das dunkle Reich der Kaufleute, der bestechlichen Kreaturen, der parasitären Ausbeuter. Seine Theaterstücke „Der Wald“, „Das Gewitter“, „Eine einträgliche Stelle“, „Armut ist keine Schande“ geben ein breites und wahrheitsgetreues Bild des russischen Lebens um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Der berühmte Schriftsteller Turgenjew schilderte in seinem „Tagebuch eines Jägers“ teilnahmsvoll und schwermütig die Lebensweise und die geistige Welt der Bauern. Seine Romane: „Das Adelsnest“, „Rudin“, „Am Vorabend“, „Väter und Söhne“ schildern jene Zersetzung, die in der russischen Gesellschaft am Vorabend der Abschaffung der Leibeigenschaft vor sich ging. Turgenjew schuf markante Typen jener „überflüssigen Menschen“, die nicht wussten, was sie mit ihren Kräften im Lande der Leibeigenschaft anfangen sollten.
Gontscharow zeichnet in seinen Romanen „Eine gewöhnliche Geschichte“, „Der Abgrund“ und „Oblomow“ wirklichkeitsnah und in bilderreicher Sprache das Russland der Beamten und der Gutsbesitzer vor der Reform der 1860er Jahre. Dobroljubow weist auf die gewaltige gesellschaftliche Bedeutung des Romans „Oblomow“ hin, der ein Urteilsspruch über die gesamte leibeigene Gesellschaftsordnung war.

In den 1840er Jahren wurde Dostojewskij durch seinen Roman „Arme Leute“ bekannt. Seine Romane „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Brüder Karamasow“ brachten ihm Weltruhm ein. Dostojewskij zeichnete in ihnen in genialer Weise Bilder der Erniedrigung und der Herabwürdigung der Persönlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft.

In den 1850er Jahren trat der „große Schriftsteller des russischen Landes“, Leo Tolstoi, auf den Plan. Seine genialen Werke „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Auferstehung“ enthalten, wie Lenin sagte, „unvergleichliche Bilder des russischen Lebens“. In der größten Schöpfung der russischen Literatur – in dem Roman „Krieg und Frieden“- wird der heldenhafte Kampf des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit im Jahre 1812 geschildert. Dieser Roman ist von dem tiefen Glauben an die schöpferischen Kräfte des großen russischen Volkes erfüllt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts trat der vortreffliche Schriftsteller Anton Pawlowitsch Tschechow hervor. In seinen satirischen Werken geißelt er die unnützen Flenner, die bürgerlichen Liberalen, die Kleinbürger. „Keiner vor ihm vermochte den Menschen das schmähliche und traurige Bild ihres Lebens im trüben Chaos des kleinbürgerlichen Alltags so schonungslos wahr zu zeigen“, schrieb Gorki über Tschechow. „Sein Feind war die Banalität, sein ganzes Leben lang bekämpfte und verspottete er sie und schilderte sie mit seiner kühlen, spitzen Feder.“

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte die junge Arbeiterklasse Russlands ihren genialen Künstler, den großen proletarischen Schriftsteller Alexej Maximowitsch Gorki hervor. Er wurde am 16. März 1868 in Nishnij-Nowgorod in der Familie eines Kunsttischlers geboren. Nach dem frühen Verlust seines Vaters begann für ihn mit dem 10. Lebensjahr ein arbeitsames, an Entbehrungen und Umherwandern reiches Leben. Seine schwere und freudlose Kindheit beschrieb Gorki in den vortrefflichen Büchern „Kindheit“ und „Unter fremden Menschen“. Schon in seiner Jugend machte er sich mit den Revolutionären bekannt. Sein herz entflammte in zornigem Protest gegen die Ausbeuter, brannte in heißem Mitgefühl für die Unterdrückten und Ausgebeuteten. Diese Gefühle des jungen revolutionären Schriftstellers fanden in seinen Werken ihren Niederschlag. Im Jahre 1901 ertönte wie Sturmgeläut das berühmte „Lied vom Sturmvogel“, das zur Revolution aufrief. „Mag der Sturm noch stärker brausen“, rief der Dichter, der dafür den Beinamen „Sturmvogel der Revolution“ erhielt. Schon zu jener Zeit wurde Gorki der Lieblingsschriftsteller nicht nur des russischen, sondern auch des westeuropäischen Proletariats.
Im Jahre 1902 wurde Gorki zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt, die zaristische Regierung hielt die Wahl des revolutionären Schriftstellers jedoch für eine „Frechheit“ und strich seinen Namen von der Liste der Akademiker. Zum Zeichen des Protestes verzichteten die Schriftsteller Tschechow und Korolenko auf ihre Ehrenmitgliedschaft der Akademie.
Immer neue Werke Gorkis erschienen im Druck. Sie waren von dem Glauben an den neuen Menschen, an den aufopferungswilligen Kämpfer um die Freiheit, an den stolzen, kühnen und starken Schöpfer eines neuen Lebens durchdrungen. „Mensch – das klingt stolz!“ schrieb Gorki. In dem Roman „Die Mutter“ begrüßte er mit Jubel die junge Arbeiterklasse Russlands. „Wenn man auf sie schaut, da sieht man – Russland wird die hervorragendste der Demokratien der Erde sein“, sagt einer der Helden des Romans „Die Mutter“ über die neue Generation der russischen Arbeiter.
Lenin begrüßte das Erscheinen des talentvollen proletarischen Schriftstellers warm Er sah den Beweis der geistigen Kraft der neuen revolutionären Klasse, die die Welt umgestalten wird. „…Gorki“– schrieb Lenin – „ist zweifellos der größte Vertreter der proletarischen Kunst…“
Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war die fortschrittlichste Literatur der Welt. Ihr ideeller Reichtum setzte Europa in Erstaunen. Gorki schrieb: „In der russischen Literatur fanden die großen, von der Menschheit geschaffenen Freiheitsideen ihren treffenden Ausdruck.“
Der hohe Ideengehalt entsprang der ursprünglichen und tiefen Verbindung der russischen Literatur mit dem großen russischen Volk und seinem Freiheitskampf.
Die Verbindung der russischen Literatur mit der russischen gesellschaftlichen Befreiungsbewegung war nicht zufällig. Herzen erklärte diese Besonderheit der russischen Literatur folgendermaßen: „Bei einem Volke, das keine politische Freiheit besitzt, ist die Literatur die einzige Tribüne, von deren Höhe herab es den Schrei seiner Empörung und seines Gewissens vernehmen lassen kann.“
Die Schriftsteller waren die fortschrittlichen Vertreter der revolutionären Generationen im Russland des 19. Jahrhunderts. Die russische Literatur war die hauptsächliche Pflanzstätte der fortschrittlichen gesellschaftlichen Idee und der erste Erzieher der jungen revolutionären Generationen. Von Radischtschew an war die russische Literatur von dem Gefühl der sozialen Gerechtigkeit durchdrungen. Die fortschrittlichen Schriftsteller machten nicht „Gott“, nicht die „Natur“ für den Kummer und die Leiden des russischen Volkes verantwortlich, sondern jene soziale Ordnung, deren Abänderung die Menschen selbst vornehmen sollten. Die besten fortschrittlichen Schriftsteller und Dichter Russlands des 19. Jahrhunderts waren Demokraten, leidenschaftliche Verteidiger der Freiheit, die den Zarismus und die Leibeigenschaft im Lande hassten.
Die Liebe zum Vaterland und der Nationalstolz der russischen Schriftsteller verwandelten sich bei ihnen niemals in nationale Beschränktheit.
Belinskij bestimmte in einem Artikel, der der Lyrik Lermontows gewidmet war, die Auffassung des Patriotismus, der sich durch die gesamte russische Literatur hindurchzieht, folgendermaßen: „Sein Vaterland lieben, heiß, glühend zu wünschen, in ihm die Verwirklichung des Ideals der Menschheit zu sehen und nach Maßgabe seiner Kräfte dazu beizutragen.“
Die großen fortschrittlichen Ideen fanden auch in der Kunst ihren Niederschlag. Die Vertreter dieser Ideen waren im 19. Jahrhundert in der Literatur: Puschkin, in der Malerei: Wenezianow, in der Musik: Glinka. Wenezianow stellte als erster in der Malerei das einfache russische Leben und eine rein russische Landschaft dar.
In den 1860er Jahren erhalten in der darstellenden Kunst die demokratischen Ideen eine große Verbreitung. Eine Gruppe von Absolventen der Akademie der Künste, die gegen die reaktionäre Richtung in der Kunst protestierten, gründete die „Genossenschaft der Wanderausstellungen“. Die Künstler dieser Genossenschaft traten für eine national-russische, wahrhaft völkische und realistische Richtung in der Kunst ein. Aus der Mitte dieser „Wanderaussteller“ gingen die drei nationalen Künstlerriesen: Reptin, Surikow und Levitan hervor.

Reptins Bilder stellen mit einem tiefen Realismus und künstlerischer Vollendung das Leben und die Arbeit des russischen Volkes dar. Die „Burlaki“ („Die Wolgaschlepper“) – ausgemergelte Menschen, die sich mit allen Kräften in den Schleppgurt stemmen, treideln den schweren Schleppkahn. „Der Kreuzzug im Gouvernement Kursk“ – umgeben von Polizisten, im Schatten von Kirchenfahnen, versengt von einer unbarmherzigen Sonne, schreitet die erschöpfte und zerlumpte Volksmenge in der Prozession und bittet um Regen. Reptins Bilder sind vom Mitgefühl für das unterdrückte Volk erfüllt. Sein Bild „Saporoshzy“ („Die Saprosher Kosaken“) zeigt die unbezwungen Kosaken-Freischar, die auf die Drohungen der Feinde mit fröhlichem Spott antwortet.
Surikows Bilder sind von der Begeisterung über den mächtigen Volksgeist durchdrungen, der im Namen einer Idee zu Tod und Pein bereit ist. Seine „Bojarin Morosowa“, „Stepan Rasin“ und andere stellen die Volksmassen in den krisenhaften Augenblicken der russischen Geschichte dar.
Levitans Bilder: „Goldender Herbst“, „März“, „Abend an der Wolga“, „Die ewige Ruhe“ spiegeln mit großer Eindringlichkeit und Liebe die reine, sanfte und schwermütige russische Natur wieder.
Das Gedächtnis des russischen Volkes wird für immer die Namen so bedeutender Künstler bewahren wie: Perow mit seiner „Trojka“, „Teestunde in Mytischtschi“ und mit den Porträts der hervorragenden russischen Schriftsteller; Schischkin mit seinen wunderbaren Bildern „Morgen im Fichtenwalde“, „Roggen“ usw.; Kramskoj, ein hervorragender Schöpfer von Porträts der großen Repräsentanten der russischen Kultur; Serow, ein bemerkenswerter russischer Maler; Aiwasowskij, der das Meer ausgezeichnet darstellte: „Der Sturm“, „Die neunte Woge“; Wereschtschagin mit seinen Kriegs- und Schlachtenbildern: „Apothes des Krieges“, „Tödlich verwundet“ und andere; Wasnezow, der sich den russischen Märchen und Heldensagen in seinen berühmten Bildern zugewendet hat: „Drei Recken“, „Aljonuschka“ und Polenow mit seinen Bildern: „Großmütterchens Garten“, „Die Kranke“, „Moskauer kleiner Hof“.
Der nationale Genius des russischen Volkes zeigte sich im 19. Jahrhundert auch im musikalischen Schaffen. Der Stammvater der russischen Oper und der symphonischen Musik war Glinka.

Er verwertete den unausschöpflichen Reichtum der Volksweisen, die schöpferischen Errungenschaften der westeuropäischen Musik und schuf geniale Vorbilder der russischen musikalischen Kunst. Glinkas Opern: „Ruslan und Ludmila“ und „Iwan Sussanin“ wurden klassische Werke nicht nur der russischen Musik, sondern auch der Musik der gesamten Welt.
Einen großen Beitrag zur russischen Musikkunst leisteten in den 1860er und 1870er Jahren die Komponisten, die sich in der musikalischen Gemeinschaft „Das mächtige Häuflein“ zusammengeschlossen hatten. Die Komponisten des „Mächtigen Häufleins“; Balakirew, Borodin, Kjui, Mussorgskij und Rimskij-Korssakow: „Schneewittchen“, von Mussorgskij: „Boris Godunow“ und „Chowanschtschina“, stellten zum ersten Mal in der Opernkunst das Volk in der Eigenschaft des Haupthelden des Werkes dar.
Den 80-90er Jahren des 19. Jahrhunderts gehört die Blütezeit des Schaffens Tschaikowskijs an, eines der größten Komponisten der Welt.

Tschaikowskij gelang es wie keinen anderen, die besten Traditionen der nationalen Kunst mit den hohen allgemeinmenschlichen Gefühlen und Idealen zu einer harmonischen Einheit zu verbinden. Das ist der Grund, weshalb die Menschen der verschiedenen Länder und Völker Tschaikowskijs Musik nachempfinden und verstehen.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich auch das russische Nationaltheater. Mit dem Namen des hervorragenden Künstlers Schtschepkin ist die Blüte des Kleinen Theaters in Moskau verbunden. In diesem Theater traten die großen russischen Schauspieler und Schauspielerinnen auf: Sadowskij, Fedotowa, Jermolowa; in den besten russischen Schauspielnen: „Muttersöhnchen“ von Fonwisin, „Das Unglück, klug zu sein“ von Gribojedow, „Der Revisor“ von Gogol, die Theaterstücke von Ostrowskij und später Tschechow und Gorki. Über die Rolle des Kleinen Theaters äußerten sich die besten russischen Menschen: „Auf der Moskauer Universität haben wir gelernt, im Kleinen Theater sind wir erzogen worden.“
Im Jahre 1917 schrieb der große proletarische Schriftsteller Gorki in Bezug auf die schöpferische Leistung des russischen nationalen Genius im 19. Jahrhundert: „Auf dem Gebiete der Kunst, in der Schaffenskraft des Herzens, hat das russische Volk eine erstaunliche Kraft bewiesen, indem es unter den entsetzlichsten Bedingungen eine herrliche Literatur, eine wunderbare Malerei und eine originale Musik schuf, die die ganze Welt bewundert. Der Mund des Volkes war verschlossen, die Flügel der Seele gebunden, doch sein Herz gebar Dutzende von großen Künstlern des Wortes, des Tones, der Farbe.“

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa