Das zaristische Russland beschritt später als die Länder Westeuropas den Weg der kapitalistischen Entwicklung. Zu jener Zeit, als im Westen – in England, Frankreich und Deutschland – die Maschinengroßindustrie schnell anwuchs und mit ihr zusammen auch das Proletariat, herrschte in Russland noch die wenig produktive, unfreiwillige Leibeigenenarbeit. Nach der Reform des Jahres 1861 begann sich der Kapitalismus in der Industrie und der Landwirtschaft schneller zu entwickeln.
In den ersten Jahrzehnten nach der Reform wurden vor allem im Eisenbahnbau Kapitalien investiert. Von 1861 bis 1881 wurden mehr als 19 000 Kilometer Eisenbahnen gebaut. Für den Eisenbahnbau waren Stahl- und Eisenerzeugnisse notwendig. Dies bewirkte eine Belebung der metallurgischen und eisenverarbeitenden Industrie.
Im Jahre 1871 wurde der erste Hochoffen in der Ukraine in Jusoka (später Stalino) angeblasen.
(Die Stadt wurde 1924 zu Ehren Stalins in Stalino umbenannt. Nach dem Tod Stalins und als Stalin verdammt wurde, hatte man im Jahre 1961 die Stadt in Donezk umbenannt. Diese Stadt liegt im Donbas. Von 2014 bis 2022 war Donezk die Hauptstadt der Volksrepublik Donezk, die mit Russland verbündet war. Seit 2022 gehört die Volksrepublik Donezk zur Russischen Föderation, wobei Donezk weiterhin ihre Hauptstadt ist. Die Ukraine beansprucht dieses Gebiet für sich. Siehe Wikipedia und den KI-Text P.R.) Für KI-Text Stalino im Browser eingeben.
Die im Süden gelegenen Werke begannen Schienen und andere Gegenstände für den Eisenbahnbau herzustellen, die früher aus dem Ausland eingeführt wurden. Die Förderung von Steinkohle in der Ukraine erhöhte sich in der gleichen Zeit um das 15fache.
Im Süden Russlands entstand ein neuer Industriebezirk: das Donez-Steinkohlebecken (Donbass).
Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.
Im Kaukasus entwickelte sich im schnellen Tempo der Bakuer Erdölbezirk, in dem der wertvolle flüssige Brennstoff: das Erdöl, gewonnen wurde. Es entwickelten sich und erstarkten solche Industriezentren wie Petersburg, Moskau, Jekaterinoslaw (später Dnjeproetrowsk), Rostow, Charkow, Odessa.
Die Abschaffung der Leibeigenschaft begünstigte das Eindringen des Kapitalismus auch auf dem Land. Die Gutswirtschaften verwandelten sich allmählich in kapitalistischen Wirtschaften. Ein Teil der Gutsbesitzer konnte sich den neuen Verhältnissen nicht anpassen und wurde ruiniert. Ihr Land kauften die Kulaken (die reichen Bauern) auf. Im Dorf nahm die Klassenschichtung zu. Es sonderte sich der kleine Teil der reichen Bauern, der Kulaken aus; die Mehrzahl der Bauern setzte sich aus armen Kleinbauern und Mittelbauern zusammen.
Die Gutsbesitzer verpachteten das Land in großen Flächen an die Kulaken für einige Jahre, die Kulaken ihrerseits verpachteten es an die mittellosen Bauern gewöhnlich auf ein Jahr. Der Mangel an Land bei der übergroßen Masse der Bauern zwang sie, Land zu pachten oder sich als Knechte den Kulaken und Gutsbesitzern zu verdingen. Für die Pacht mussten die Bauern mit ihrem eigenen Inventar das Land des Gutsbesitzers oder des Kulaken bearbeiten. Es waren dies die alten leibeigenen Frondienste in der neuen Form der Abarbeit. Eine andere Form dieses Frondienstes war die Halbpacht, bei der die Bauern für das gepachtete Land die Hälfte ihres Ernteertrages in natura abgeben mussten. Das Ergebnis war, dass die Bauern ruiniert wurden und viele als Knechte sich verdingten oder in die Stadt nach Arbeit gingen. Die Überbleibsel der Leibeigenschaft hinderten die Entwicklung des Kapitalismus. Dies hatte zur Folge, dass Russland hinter den anderen kapitalistischen Ländern zurückblieb.
Nichtsdestoweniger entwickelte sich der Kapitalismus in Russland unaufhaltsam weiter. Lenin schrieb, indem er das Fazit aus den Erfolgen des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts zog: „Das Russland des Hakenpfluges und des Dreschflegels, der Wassermühle und des Handwebstuhles begann sich schnell in das Russland des Pfluges und der Dreschmaschine, der Dampfmühle und des Dampfwebstuhles zu verwandeln.“
Mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland war, wie auch in anderen Ländern, das Aufkommen der Arbeiterklasse und das Entstehen einer Arbeiterbewegung verbunden. Als Ergebnis der Reform des Jahres 1861 wurden 10 Millionen Bauern von der leibeigenen Abhängigkeit befreit. Viele von ihnen gingen, da sie nicht mit Land versorgt waren, in die Fabriken und Werke, zu den Eisenbahnarbeiten, zu verschiedenen Bauunternehmen, sowie als Knechte zu den Kulaken und Gutsbesitzern. Innerhalb von 20 Jahren (1861 bis 1881) verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter in Russland und stieg auf 668 000. Die neuen Unternehmungen zeichneten sich durch große Ausmaße aus. Ende des 19. Jahrhunderts waren auf den Unternehmungen mit mehr als je 1000 Arbeitern mehr als ein Drittel sämtlicher Arbeiter Russlands beschäftigt. Die gemeinsame Arbeit in großen Unternehmungen begünstigte den Zusammenschluss der Arbeiterschaft, und der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeuter entwickelte in ihnen kämpferische, revolutionäre Eigenschaften. Auf diese Weise formte sich eine neue Gesellschaftsklasse: das Proletariat, das sich von Grund aus von den leibeigenen Arbeitern und kleinen Handwerkern unterschied.
Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter waren äußerst schwer. Der Arbeitstag war nicht gesetzlich geregelt. Nicht selten erreichte er 15 bis 16 Stunden. Der Arbeitslohn war erbärmlich. Besonders niedrig wurde die Frauenarbeit bezahlt. Für eine der Männerarbeit gleichwertige Arbeit erhielt die Frau einen geringeren Arbeitslohn. Die Arbeit der Jugendlichen und Kinder wurde noch schlechter bezahlt. Die Arbeit der Jugendlichen z.B. in der Krenholmer Textilmanufaktur dauerte von früh vier Uhr bist acht Uhr abends. Bei einer 16stündigen Tagesarbeit erhielten sie 4 Rubel im Monat. Aber ausgezahlt bekamen sie nur 8 Kopeken. Der Eigentümer der Fabrik behielt für Unterhalt der Jugendlichen 6 Rubel und 50 Kopeken im Monat ein. Auf diese Weise blieb der jugendliche Arbeiter dem Fabrikanten, nachdem er einen Monat gearbeitet hatte, noch 2 Rubel 58 Kopeken schuldig. Diese Schuld musste er abarbeiten, sobald er ein selbstständiger Arbeiter geworden war.
Die Fabrikanten bestraften die Arbeiter erbarmungslos. Die Strafen wurden völlig willkürlich auferlegt. Oft betrogen die Fabrikanten die Arbeiter bei der Auszahlung des Arbeitslohnes, gaben ihnen an Stelle von Geld minderwertige Produkte aus dem Fabrikladen und berechneten sie zwei- bis dreimal teurer, als diese auf dem Markt kosteten. Außerordentlich schlecht waren die Wohnverhältnisse. In jeder der kleinen Kammern der Arbeiterkasernen waren mehrere Familien untergebracht.
Über die unerträgliche Lage der Arbeiter gibt die Semstwo-Sanitätskommission, die zu Beginn der 1880er Jahre in Ursachen der Arbeiterunruhen in der Chludowmanufaktur (an der Station Jarzewo der Moskau-Brester Eisenbahnlinie gelegen) untersuchte, in ihrem Bericht Zeugnis:
„Die Millionenfabrik (Chludows), eine Brutstätte jedweder Seuche, erscheint zur gleichen Zeit als das Muster der erbarmungslosen Ausbeutung der Volksarbeit durch das Kapital. Die Arbeit in der Fabrik findet unter äußerst ungünstigen Bedingungen statt: Die Arbeiter müssen den Baumwollstaub einatmen, sind der Einwirkung der erdrückenden Hitze bis 28,2 O R. ausgesetzt und haben auch noch den erstickenden Geruch zu ertragen, der aus den schlecht angelegten Retiraden sich verbreitet. Die Fabrikleitung erklärte, dass sie keine Verbesserung dieser Retiraden aus dem Grunde vornimmt, weil im entgegengesetzten Falle, bei der Abstellung der üblen Ausdünstungen, diese Orte sich in Erholungsorte für die Arbeiter verwandelt würden, und man diese dann von dort mit Gewalt herausjagen müsste. Wie müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in dieser Fabrik gewesen sein, wenn sogar die Retiraden zu Erholungsorten werden konnten!
Tag und Nacht wird gearbeitet. Jeder muss zwei Schichten am Tag arbeiten, alle sechs Stunden wird Pause gemacht, so dass der Arbeiter niemals ganz ausschlafen kann. Die Arbeiter werden in der Nähe der Fabrik in einem großen feuchten Gebäude in der dritten Etage untergebracht, das, gleich einer gewaltigen Menagerie, in Käfige und Kammern eingeteilt ist, die schmutzig und stinkig, von dem Geruch der Aborte (altes Wort für Toilette P.R.) geschwängert sind. In diese Kammern sind die Bewohner hineingepfropft, wie Heringe in der Tonne.“
Die Arbeiter in der Fabrik Chludows wurden auf ein Jahr gedungen. In ihren Arbeitsbüchern war angegeben, dass sie nicht das Recht hatten, die Fabrik vor Ablauf eines Jahres zu verlassen. Die Fabrikverwaltung aber konnte den Arbeiter zu jeder beliebigen Zeit auf die Straße setzen. Den Lohn erhielten die Arbeiter nicht in Gestalt von Geld, sondern in Gestalt von Lebensmitteln und Kleidung aus dem Laden des Arbeitgebers.
Einer besonders grausamen Ausbeutung waren in dieser Fabrik die Kinder und Jugendlichen, die fast die Hälfte der gesamten Belegschaft ausmachten, ausgesetzt. Laut Zeugnis des Semstwoarztes waren die Kinder so überanstrengt, dass sie bei einer als Folge einer Körperversetzung etwa notwendig machenden Operation ohne jede Narkose einschliefen.
Strafen und Abzüge jeglicher Art verringerten den Arbeitslohn um einen beträchtlichen Teil.
Die Lage der Arbeiter in der Fabrik Chludows war kein Ausnahmefall.
Eine fürchterliche Ausbeutung der Arbeiter in den Fabriken und Werken des zaristischen Russlands war eine übliche und überall anzutreffende Erscheinung. Sie verschaffte den Fabrikanten und Werkbesitzern gewaltige Profite, die Arbeiter überanstrengte sie, machte sie zu Invaliden und führte zu vorzeitigem Tod. In Russland, wie auch überall, wuchs der Kapitalismus auf den Knochen und dem Blut der Arbeiter.

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Ein Kommentar zu „Das Anwachsen des Kapitalismus in Russland nach der Reform des Jahres 1861“