Die Entwicklung der russischen Kultur im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert waren Russland und Westeuropa bei weitem enger verbunden als im vorhergehenden Jahrhundert.

Während des Krieges mit Napoleon im Jahre 1812 und in der Zeit der europäischen Feldzüge 1813 bis 1815 lernte Europa Russland und Russland Europa näher kennen. Die Völker Europas verfolgten den heroischen Kampf des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit mit Begeisterung. Die russischen Menschen bangten um das Schicksal ihres Vaterlandes. In ihnen wuchs das Streben, ihr Vaterland frei, gebildet und glücklich zu machen. „Jeder fühlte, dass er berufen ist, an der großen Aufgabe mitzuwirken“-bezeugte der Dekabrist Jukuschkin. „Wir waren Kinder des Jahres 1812“ – so erklärte der Dekabrist Murawjow-Apostol die Entstehung seines Freidenkertums.

Auf diese Weise gaben der Vaterländische Krieg des Jahres 1812 und die darauffolgenden Feldzüge in Europa der Erweckung des Nationalbewusstseins des russischen Volkes einen starken Anstoß. Die Gefahren des Jahres 1812 erweckten die russische Nation, schrieb späterhin Tschernyschewskij.

Die Liebe zum Vaterland war bei den russischen Menschen von dem leidenschaftlichen Streben durchdrungen, Russland zu reformieren und es in die Reihe der fortschrittlichen Länder zu stellen. Der Kampf um die Aufklärung Russlands wurde das allgemeine Programm aller fortschrittlichen Menschen des Landes. Der Menschenverstand wurde als jene Kraft anerkannt, die das in Unwissenheit und Unterdrückung schmachtende Russland auf den Weg der Freiheit führen sollte.

Der allgemeine Hang zur Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte auch nicht ohne Auswirkung auf die Maßnahmen der Regierung im Bildungswesen bleiben. Im Jahre 1802 wurde ein Ministerium für Volksaufklärung, Jugenderziehung und Verbreitung der Wissenschaften geschaffen. Zwar war das Ministerium von dem sich im Lande weithin entfaltenden „Freidenkertum“ sehr beunruhigt, jedoch „der Geist der Zeit“ zwang es, sich mit der Einführung der Bildung zu beschäftigen.

Außer der bereits von Lomonossow geschaffenen Moskauer Universität wurden im Jahre 1804 die Universitäten in Kasan, Charkow, Wilno und Derpt (Dorpat) errichtet.

Die Universitäten sollten Bildungszentren des Landes werden. Um sie herum wurden wissenschaftliche Gesellschaften geschaffen. Die besten Professoren und Gelehrten des Landes hielten in den Universitäten Vorlesungen, schrieben Lehrbücher. Die führende Rolle sowohl im wissenschaftlichen als auch im gesellschaftlichen Leben spielte die Moskauer Universität. Selbst nach der Niederwerfung des Dekabristenaufstandes, als die zaristische Regierung das Bildungswesen stark beengte, bewahrte die Moskauer Universität auch weiterhin diese Rolle.

Die zaristische Regierung, die das Anwachsen von Bildung für gefährlich hielt, war bemüht, den Zutritt der Rasnotschienzy in die Schulen, Gymnasien und Universitäten zu beschränken. In den Gymnasien und Universitäten wurde eine hohe Unterrichtsgebühr, die für die Rasnotschienzy unerschwinglich war, eingeführt. An jeder Universität wurde die Zahl der Studenten stark vermindert. Das Lehrprogramm wurde überprüft, um aus ihm „den Geist des Freidenkertums“ auszurotten.

Die zaristische Regierung konnte jedoch das mächtige Streben des russischen Volkes nach Wissen und Fortschritt nicht aufhalten. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft war das Bedürfnis des Landes nach Bildung noch mehr gewachsen. Der Kapitalismus erforderte gelernte Arbeiter, fähige Techniker und kundige Ingenieure. Die Semstwos eröffneten in den Dörfern die Semstwoschulen. In den Städten erhöhte sich die Zahl der städtischen Schulen und der Gymnasien. In den 1860er Jahren wurde das erste Mädchengymnasium errichtet, in den 1870er Jahren wurden in Petersburg die Akademischen Frauenkurse, die den Grund zur akademischen Ausbildung der Frauen legten, geschaffen.  Dem Bedarf der Kapitalisten an technischem Personal Rechnung tragend, eröffnete das Finanzministerium am Ende des 19. Jahrhunderts drei polytechnische Institute und eine beträchtliche Anzahl von mittleren Handels- und technischen Schulen. Die Entwicklung der mittleren und Hochschulbildung, der allgemeinen und speziellen Bildung förderte das Wachstum der russischen Wissenschaft.

Die Entwicklung der russischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert zeitigte große Erfolge, die sie nicht nur auf gleiche Stufe, sondern in vielem an die Spitze der Wissenschaft Westeuropas stellten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkte sich in Russland in ungewöhnlichem Maße das Interesse an den „politischen Wissenschaften“, insbesondere an der Geschichtswissenschaft.

Der russische Historiker Karamsin gab im Jahre 1818 die ersten Bände seines Werkes „Geschichte des Russischen Reiches“ heraus. Ungeachtet dessen, dass der Autor reaktionäre, monarchistische Ansichten verfocht, machten sich die russischen Menschen nach diesen Büchern mit starkem Interesse mit der großen Vergangenheit ihres Vaterlandes bekannt. Puschkin, der dieses Verdienst Karamsins hervorhob, dass Karamsin die Geschichte Russlands ebenso entdeckte wie Kolumbus Amerika.

Nach Karamsin arbeiteten viele russische Gelehrte an der Erforschung der Geschichte Russlands. Das hervorragensde Geschichtswerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das vielbändige Werk des berühmten russischen Historikers Solowjów „Geschichte Russlands von den ältesten Zeiten an“.

Die russischen Gelehrten erforschten die Vergangenheit und Gegenwart ihres Landes und seine natürlichen Reichtümer. Damit beschäftigten sich die russischen wissenschaftlichen Geographen. Die kolossalen Gebiete von der Ostsee bis zum Stillen Ozean und von der Arktis bis zum Schwarzen Meer wurden auf Karten eingetragen, in geographische Atlanten aufgenommen, mit Hilfe von wissenschaftlichen Expeditionen beschrieben und erforscht. Die russischen Geographen beschränkten sich aber nicht mehr auf die Erforschung des weiten russischen Landes. In den Jahren 1803 bis 1806 machte Krusenstern als erster Russe eine Reise um die Welt. In den Jahren 1819 bis 1821 gelangte die russische Expedition von Lasarew, die sich durch die Eismassen durchgeschlagen hatte, als erste bis zu den Ufern der Antarktis. Über den ganzen Stillen Ozean liegen Inseln verstreut, die bis auf den heutigen Tag (Stand 1947 P.R.) ihre russischen Bezeichnungen behalten haben:

Die Suworow-Insel, die Kutusow-Insel, die Sandbank „Beregisj“ usw.

Im Jahre 1871 gelangte der russische Gelehrte Miklucha-Maklaj bis zur Insel Neuguinea. Das war der erste Europäer, der zu einem Stamm der Papuas kam, sich unter ihnen einige Jahre aufhielt und ihre Lebensweise und Bräuche erforschte.

Die Expeditionen von Przewalskij, Pewzow, Potanin, Koslow drangen in das Innere von Zentralasien und lieferten der Weltwissenschaft ihren unschätzbaren Beitrag.

Die schöpferischen Ideen der russischen Gelehrten offenabarten sich im 19. Jahrhundert auf allen Wissensgebieten.

Die russische Wissenschaft begann mit den Arbeiten des genialen Lomonossow, der den Grund zu vielen Naturwissenschaften und exakten Wissenschaften legte. Seine Fortsetzer waren, gleich ihm, Aufklärer des russischen Volkes und neuer der Wissenschaft.

Einer von diesen Neuerern war der Professor der Universität Kasan, der geniale Mathematiker Lobatschewskij. Er stellte sein geometrisches System auf, das eine neue Vorstellung vom Raum gab. Der englische Mathematiker Sylvester nannte Lobatschewskij „den Kopernikus der Geometrie“.

In den Jahren 1802 bis 1803 entdeckte der russische Physiker Petrow unabhängig von den ausländischen Gelehrten die Elektrolyse die Grundlage der modernen Elektrochemie. Er entdeckte den Lichtbogen einige Jahre früher als die europäischen Gelehrten.

Die russischen Gelehrten und Erfinder wandte den elektrischen Strom als erste in der Praxis an. Im Jahre 1832 baute Schilling in Petersburg als erster in der Welt einen elektromagnetischen Telegraphen; er hatte ihn zwischen dem Ministerium der Verkehrswege und dem Winterpalast eingerichtet. Einige Jahre später wurde ein ähnlicher Apparat von den Engländern Whitestone und Cook erfunden und erhielt eine weltweite Verbreitung.

Im Jahre 1833 baute der Mechaniker Tscherepanow im Ural die erste russische Dampflokomotive einer originalen Bauart.

Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft waren günstigere Bedingungen für die Entwicklung der russischen Wissenschaft geschaffen. Die Gelehrten und Erfinder begegneten jedoch nach wie vor Hindernissen auf dem Wege zur Verwirklichung ihrer schöpferischen Ideen.

Der russische Erfinder Jablotschow konstruierte die erste elektrische Bogenlampe in der Welt. Im Jahre 1875 erleuchteten die „Jablotschkowkerzen“, die unter den regierenden Kreisen des zaristischen Russlands keinerlei Interesse hervorriefen, die Kaufläden und Straßen von Paris. Das von Jablotschkow erfundene elektrische Licht nannten die Franzosen „das russische Licht“. Der russische Elektrotechniker Popow hat als erster den Radiotelegraphen im Jahre 1895 erfunden, jedoch wurden für seine Versuchsanlagen keine Gelder bewilligt. Als Antwort auf das diesbezügliche Gesuch traf der Kriegsminister den Beschluss: „Für ein solches Hirngespinst bewillige ich keine Mittel.“  Der Italiener Marconi wiederholte später die Erfindung des russischen Gelehrten und erhielt volle Anerkennung.

Der hervorragende Mechaniker, der Vater des russischen Flugwesens, Shukowskij, führte erstmalig die Erforschung der Aerodynamik und der Theorie des Flugzeugbaus ein, seine Arbeiten fanden jedoch erst unter der Sowjetmacht Anwendung.

Nikolaj Jegorowitsch Shukowskij 1847 bis 1921
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Der große Chemiker Mendelejew formulierte im Jahre 1869 das geniale Gesetz: Die Eigenschaften der Elemente befinden sich in periodischer Abhängigkeit von ihrem Atomgewicht.“

Dmitrij Iwanowitsch Mendelejew 1834 bis 1907
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Entsprechend diesem Gesetz stellte er die periodische Tabelle der Elemente zusammen, die einen gewaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Chemie ausübte. Die Eigenschaften jener Elemente, die in der Tabelle fehlten, wurden von Mendelejew genau vorhergesagt, und diese Elemente wurden in der Folgezeit entdeckt.

Mendelejew arbeitete auf den verschiedensten Gebieten der Naturkunde, er beschäftigte sich mit den Fragen der Entwicklung der Technik und der Industrie. Er war ein eifriger Anhänger der Errichtung mit fortschrittlicher Technik ausgerüsteten Fabriken und Werken in Russland, und er erblickte in der Industrialisierung des Landes einen Ausweg aus seiner Rückständigkeit. Mendelejew hielt Russland „für einen schlafenden Riesen, für den die Stunde des Erwachens angebrochen war“.

Mendelejew war als Gelehrter kein Einzelgänger wie Lomonossow, sondern Vertreter einer mächtigen wissenschaftlichen Bewegung, die das Russland des 19. Jahrhunderts auf einen der ersten Plätze der Weltwissenschaft stellte.

In der Reihe der Gelehrten von Weltbedeutung befinden sich die russischen Gelehrten I.M. Setschenow, I.I. Metschnikow, K.A. Timirjasew, I.P. Pawlow.

Iwan Michajlowitsch Setschenkow 1829 bis 1905
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Der schöpferische Genius des russischen Volkes zeigte sich auf allen Gebieten der Kultur. Jedoch die größte Erhabenheit und Stärke erreichte er in der russischen Literatur. Schon im 18. Jahrhundert wies in der russischen Literatur viele ruhmvolle Namen auf: Lomonossow, Dershawin, Fonwisin, Radischtschew. Das 19. Jahrhundert setzte die ganze Welt durch den mächtigen Aufschwung der künstlerischen Literatur in Russland in Erstaunen. Der große proletarische Schriftsteller Maxim Gorki hebt ausdrücklich hervor, dass „keine einzige der Literaturen des Westens mit einer solchen Stärke und Schnelligkeit, in solch mächtigem, blendendem Glanze des Talentes ins Leben getreten ist….Nirgends hat sich in einer Zeitspanne von weniger als 100 Jahren ein solch helles Sternbild großer Namen, wie in Russland gezeigt“.

In diesem „Sternbild großer Namen“ gab es aber einen Stern erster Größe. Dies war der große russische Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin. Seine Bedeutung als nationaler Genius war schon von seinen Zeitgenossen begriffen worden. „Die Stimme des Volkes bezeichnete ihn als russischen nationalen Volksdichter“, schrieb Belinskij über Puschkin.

Alexander Sergejewitsch Puschkin 1799 bis 1837
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Puschkin war der Schöpfer der modernen russischen Literatursprache und sämtlicher Arten der russischen Literatur. Mit „Eugen Onegin“, die Enzyklopädie des russischen Lebens, wie Belinskij dieses Werk charakterisierte, legte er den Grund zum russischen Roman, mit der „Hauptmannstochter“ schuf er die erste russische historische Erzählung. Mit seiner Tragödie „Boris Godunow“ gab er das Vorbild für das russische historische Drama. Mit seinen lyrischen Gedichten pflanzte Puschkin, nach den Worten Turgenjews. „als erster mit kraftvoller Hand schließlich die Fahne der Poesie tief in die russische Erde“.

Puschkins Schaffen, vollendet in seiner Form, weist einen tiefen Ideengehalt auf. Seine Werke sind von Liebe und Mitgefühl der Unterdrückten, von Hass gegen die Tyrannen erfüllt. Die düsteren Bilder des Lebens im Lande der Leibeigenschaft weckten des Dichters Zorn und Tadel. Nach Radischtschew schrieb Puschkin die „Ode auf die Freiheit“, in der er zur Vernichtung der Selbstherrschaft aufrief. Mit dem Gedicht „Das Dorf“ brandmarkte Puschkin zornig „das Geschlecht von Herren, die jedes Recht verhöhnen“, das „sein Joch erbarmungslos dem Landmann aufs Genick“ legte.

Puschkin, der den Ideen der Dekabristen warme Sympathie entgegenbrachte, verfasste bemerkenswerte „Sendschreiben nach Sibirien“ und schickte es durch die Frau eines der Verurteilten an die verbannten Dekabristen. Er rief die Dekabristen auf, die Hoffnung nicht zu verlieren und bis zum Ende für die Sache der Freiheit einzutreten.

Die letzten Lebensjahre des großen Dichters vergingen in der qualvollen Atmosphäre von Verleumdungen, Denunziationen und Demütigungen. Im Jahre 1837 wurde er von Dantes, einem Offizier vom Zarenhof, im Duell getötet. In seinem Gedicht „Auf den Tod des Dichters“ brandmarkte Lermontow nicht nur den Mörder, sondern auch die Würdenträger, die den Thron umgaben.

Puschkins Beitrag zur Weltliteratur erkennen bis zum heutigen Tage die fortschrittlichen Menschen aller Länder an. Das Sowjetland ehrte seinen großen nationalen Dichter in hohem Maße. Puschkin war der beliebteste Dichter sämtlicher Völker der Sowjetunion.

Michail Jurewitsch Lermontow 1814 bis 1841
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Lermontow, der Nachfolger Puschkins, hielt es gleichfalls für die Pflicht des Dichters und Schriftstellers, dem Vaterland und der Freiheit zu dienen. In den Poemen „Mzyri“, „Das Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch“, „Dämon“ und im Roman „Ein Held unserer Zeit“ schuf Lermontow das Bild eines stolzen, freiheitsliebenden Menschen, der sich der Unterdrückung und dem zwang nicht fügen will. Der rebellische Held des Poems „Mzyri“ kennt „nur die eine, aber flammende Leidenschaft“: die Liebe zur Freiheit. Die Lermonontowschen Dichtungen, Verse und Romane sich erfüllt von heißer und eindringlicher Liebe zum Vaterland, von Mitgefühl für die Unterdrückten und von Hass gegen die Bedrücker.

Nikolaj Wassiljewitsch Gogol 1809 bist 1852
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts zeichnete der große russische Schriftsteller Gogol treffende und wahrheitsgetreue Bilder des russischen Lebens in seinen Werken.  Seine genialen Schöpfungen „Der Revisor“, „Die toten Seelen“ und andere erschütternde, zornerfüllte Bilder des leibeigenen Russlands. Herzen schrieb über den Eindruck, den Gogols „Tote Seelen“ hervorriefen: „Die Toten Seelen‘ haben ganz Russland erschüttert. Eine solche Anklage war dem zeitgenössischen Russland notwendig. Die ist eine Krankheitsgeschichte, von Meisterhand geschrieben.“

In Gogols Werken „Der Revisor“, „Die toten Seelen“, „Der Mantel“ sind Typen geprägst worden, worin „unter dem sichtbaren Lachen“ des Dichters seine „der Welt unsichtbaren Tränen“ verborgen waren. Bei der Darstellung solcher Gestalten wie Tschitschikow, Sobakewitsch, Manilow und Chlestakow sah Gogol gleichzeitig schon ein neues Russland vor sich und sehnte sich danach, indem er rief: „Russland! Russland! Ich sehe dich von meiner wunderbaren, herrlichen Ferne, ich sehe dich!“ Gogol schuf aber auch positive Gestalten. Eine solche ist die des Sohnes des ukrainischen Volkes Bulba.

Der große Satiriker Saltykow-Schtschedrin entlarvte in seinen Werken boshaft und treffsicher die Gutsbesitzer, die Beamten, die aufkommende Bourgeoisie. In der „Geschichte einer Stadt“, in den „Herren Golowljow“, in den „Erzählungen aus dem alten Poschechonien“ zeichnete Saltykow ein markantes Bild des Verfalls der leibeigenen Gesellschaftsordnung.

Alexander Nikolajewitsch Ostrowskij 1823 bis 1886
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Der Dramatiker Ostrowskij zeigte das dunkle Reich der Kaufleute, der bestechlichen Kreaturen, der parasitären Ausbeuter. Seine Theaterstücke „Der Wald“, „Das Gewitter“, „Eine einträgliche Stelle“, „Armut ist keine Schande“ geben ein breites und wahrheitsgetreues Bild des russischen Lebens um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

Iwan Sergejewitsch Turgenjew 1818 bis 1883
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Der berühmte Schriftsteller Turgenjew schilderte in seinem „Tagebuch eines Jägers“ teilnahmsvoll und schwermütig die Lebensweise und die geistige Welt der Bauern. Seine Romane: „Das Adelsnest“, „Rudin“, „Am Vorabend“, „Väter und Söhne“ schildern jene Zersetzung, die in der russischen Gesellschaft am Vorabend der Abschaffung der Leibeigenschaft vor sich ging. Turgenjew schuf markante Typen jener „überflüssigen Menschen“, die nicht wussten, was sie mit ihren Kräften im Lande der Leibeigenschaft anfangen sollten.

Gontscharow zeichnet in seinen Romanen „Eine gewöhnliche Geschichte“, „Der Abgrund“ und „Oblomow“ wirklichkeitsnah und in bilderreicher Sprache das Russland der Beamten und der Gutsbesitzer vor der Reform der 1860er Jahre. Dobroljubow weist auf die gewaltige gesellschaftliche Bedeutung des Romans „Oblomow“ hin, der ein Urteilsspruch über die gesamte leibeigene Gesellschaftsordnung war.

Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij 1821 bis 1881
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

In den 1840er Jahren wurde Dostojewskij durch seinen Roman „Arme Leute“ bekannt. Seine Romane „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Brüder Karamasow“ brachten ihm Weltruhm ein. Dostojewskij zeichnete in ihnen in genialer Weise Bilder der Erniedrigung und der Herabwürdigung der Persönlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft.

 

Leo Nikolajewitsch Tolstoi 1828 bis 1910
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

In den 1850er Jahren trat der „große Schriftsteller des russischen Landes“, Leo Tolstoi, auf den Plan. Seine genialen Werke „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Auferstehung“ enthalten, wie Lenin sagte, unvergleichliche Bilder des russischen Lebens“. In der größten Schöpfung der russischen Literatur – in dem Roman „Krieg und Frieden“- wird der heldenhafte Kampf des russischen Volkes um seine Unabhängigkeit im Jahre 1812 geschildert. Dieser Roman ist von dem tiefen Glauben an die schöpferischen Kräfte des großen russischen Volkes erfüllt.

 

Anton Pawlowitsch Tschchow 1860 bis 1904
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Am Ende des 19. Jahrhunderts trat der vortreffliche Schriftsteller Anton Pawlowitsch Tschechow hervor. In seinen satirischen Werken geißelt er die unnützen Flenner, die bürgerlichen Liberalen, die Kleinbürger. Keiner vor ihm vermochte den Menschen das schmähliche und traurige Bild ihres Lebens im trüben Chaos des kleinbürgerlichen Alltags so schonungslos wahr zu zeigen“, schrieb Gorki über Tschechow„Sein Feind war die Banalität, sein ganzes Leben lang bekämpfte und verspottete er sie und schilderte sie mit seiner kühlen, spitzen Feder.“

Alexej Maximowitsch Gorki 1868 bis 1936 (Foto aus dem Jahre 1899)
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte die junge Arbeiterklasse Russlands ihren genialen Künstler, den großen proletarischen Schriftsteller Alexej Maximowitsch Gorki hervor. Er wurde am 16. März 1868 in Nishnij-Nowgorod in der Familie eines Kunsttischlers geboren. Nach dem frühen Verlust seines Vaters begann für ihn mit dem 10. Lebensjahr ein arbeitsames, an Entbehrungen und Umherwandern reiches Leben. Seine schwere und freudlose Kindheit beschrieb Gorki in den vortrefflichen Büchern „Kindheit“ und „Unter fremden Menschen“. Schon in seiner Jugend machte er sich mit den Revolutionären bekannt. Sein herz entflammte in zornigem Protest gegen die Ausbeuter, brannte in heißem Mitgefühl für die Unterdrückten und Ausgebeuteten. Diese Gefühle des jungen revolutionären Schriftstellers fanden in seinen Werken ihren Niederschlag. Im Jahre 1901 ertönte wie Sturmgeläut das berühmte „Lied vom Sturmvogel“, das zur Revolution aufrief. „Mag der Sturm noch stärker brausen“, rief der Dichter, der dafür den Beinamen „Sturmvogel der Revolution“ erhielt. Schon zu jener Zeit wurde Gorki der Lieblingsschriftsteller nicht nur des russischen, sondern auch des westeuropäischen Proletariats.

Im Jahre 1902 wurde Gorki zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt, die zaristische Regierung hielt die Wahl des revolutionären Schriftstellers jedoch für eine „Frechheit“ und strich seinen Namen von der Liste der Akademiker. Zum Zeichen des Protestes verzichteten die Schriftsteller Tschechow und Korolenko auf ihre Ehrenmitgliedschaft der Akademie.

Immer neue Werke Gorkis erschienen im Druck. Sie waren von dem Glauben an den neuen Menschen, an den aufopferungswilligen Kämpfer um die Freiheit, an den stolzen, kühnen und starken Schöpfer eines neuen Lebens durchdrungen. „Mensch – das klingt stolz!“ schrieb Gorki. In dem Roman „Die Mutter“ begrüßte er mit Jubel die junge Arbeiterklasse Russlands. „Wenn man auf sie schaut, da sieht man – Russland wird die hervorragendste der Demokratien der Erde sein“, sagt einer der Helden des Romans „Die Mutter“ über die neue Generation der russischen Arbeiter.

Lenin begrüßte das Erscheinen des talentvollen proletarischen Schriftstellers warm Er sah den Beweis der geistigen Kraft der neuen revolutionären Klasse, die die Welt umgestalten wird. „…Gorki“ schrieb Lenin„ist zweifellos der größte Vertreter der proletarischen Kunst…“

Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war die fortschrittlichste Literatur der Welt. Ihr ideeller Reichtum setzte Europa in Erstaunen. Gorki schrieb: „In der russischen Literatur fanden die großen, von der Menschheit geschaffenen Freiheitsideen ihren treffenden Ausdruck.“

Der hohe Ideengehalt entsprang der ursprünglichen und tiefen Verbindung der russischen Literatur mit dem großen russischen Volk und seinem Freiheitskampf.

Die Verbindung der russischen Literatur mit der russischen gesellschaftlichen Befreiungsbewegung war nicht zufällig. Herzen erklärte diese Besonderheit der russischen Literatur folgendermaßen: Bei einem Volke, das keine politische Freiheit besitzt, ist die Literatur die einzige Tribüne, von deren Höhe herab es den Schrei seiner Empörung und seines Gewissens vernehmen lassen kann.“

Die Schriftsteller waren die fortschrittlichen Vertreter der revolutionären Generationen im Russland des 19. Jahrhunderts. Die russische Literatur war die hauptsächliche Pflanzstätte der fortschrittlichen gesellschaftlichen Idee und der erste Erzieher der jungen revolutionären Generationen. Von Radischtschew an war die russische Literatur von dem Gefühl der sozialen Gerechtigkeit durchdrungen. Die fortschrittlichen Schriftsteller machten nicht „Gott“, nicht die „Natur“ für den Kummer und die Leiden des russischen Volkes verantwortlich, sondern jene soziale Ordnung, deren Abänderung die Menschen selbst vornehmen sollten. Die besten fortschrittlichen Schriftsteller und Dichter Russlands des 19. Jahrhunderts waren Demokraten, leidenschaftliche Verteidiger der Freiheit, die den Zarismus und die Leibeigenschaft im Lande hassten.

Die Liebe zum Vaterland und der Nationalstolz der russischen Schriftsteller verwandelten sich bei ihnen niemals in nationale Beschränktheit.

Belinskij bestimmte in einem Artikel, der der Lyrik Lermontows gewidmet war, die Auffassung des Patriotismus, der sich durch die gesamte russische Literatur hindurchzieht, folgendermaßen: „Sein Vaterland lieben, heiß, glühend zu wünschen, in ihm die Verwirklichung des Ideals der Menschheit zu sehen und nach Maßgabe seiner Kräfte dazu beizutragen.“

Die großen fortschrittlichen Ideen fanden auch in der Kunst ihren Niederschlag. Die Vertreter dieser Ideen waren im 19. Jahrhundert in der Literatur: Puschkin, in der Malerei: Wenezianow, in der Musik: Glinka. Wenezianow stellte als erster in der Malerei das einfache russische Leben und eine rein russische Landschaft dar.

In den 1860er Jahren erhalten in der darstellenden Kunst die demokratischen Ideen eine große Verbreitung. Eine Gruppe von Absolventen der Akademie der Künste, die gegen die reaktionäre Richtung in der Kunst protestierten, gründete die „Genossenschaft der Wanderausstellungen“. Die Künstler dieser Genossenschaft traten für eine national-russische, wahrhaft völkische und realistische Richtung in der Kunst ein. Aus der Mitte dieser „Wanderaussteller“ gingen die drei nationalen Künstlerriesen: Reptin, Surikow und Levitan hervor.

Ilja Jefimowitsch Reptin 1844 bis 1930 (Selbstbildnis)
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Reptins Bilder stellen mit einem tiefen Realismus und künstlerischer Vollendung das Leben und die Arbeit des russischen Volkes dar. Die „Burlaki“ („Die Wolgaschlepper“) – ausgemergelte Menschen, die sich mit allen Kräften in den Schleppgurt stemmen, treideln den schweren Schleppkahn. „Der Kreuzzug im Gouvernement Kursk“ – umgeben von Polizisten, im Schatten von Kirchenfahnen, versengt von einer unbarmherzigen Sonne, schreitet die erschöpfte und zerlumpte Volksmenge in der Prozession und bittet um Regen. Reptins Bilder sind vom Mitgefühl für das unterdrückte Volk erfüllt. Sein Bild „Saporoshzy“ („Die Saprosher Kosaken“) zeigt die unbezwungen Kosaken-Freischar, die auf die Drohungen der Feinde mit fröhlichem Spott antwortet.

 

Surikows Bilder sind von der Begeisterung über den mächtigen Volksgeist durchdrungen, der im Namen einer Idee zu Tod und Pein bereit ist. Seine „Bojarin Morosowa“, „Stepan Rasin“ und andere stellen die Volksmassen in den krisenhaften Augenblicken der russischen Geschichte dar.

Levitans Bilder: „Goldender Herbst“, „März“, „Abend an der Wolga“, „Die ewige Ruhe“ spiegeln mit großer Eindringlichkeit und Liebe die reine, sanfte und schwermütige russische Natur wieder.

Das Gedächtnis des russischen Volkes wird für immer die Namen so bedeutender Künstler bewahren wie: Perow mit seiner „Trojka“, „Teestunde in Mytischtschi“ und mit den Porträts der hervorragenden russischen Schriftsteller; Schischkin mit seinen wunderbaren Bildern „Morgen im Fichtenwalde“, „Roggen“ usw.; Kramskoj, ein hervorragender Schöpfer von Porträts der großen Repräsentanten der russischen Kultur; Serow, ein bemerkenswerter russischer Maler; Aiwasowskij, der das Meer ausgezeichnet darstellte: „Der Sturm“, „Die neunte Woge“; Wereschtschagin mit seinen Kriegs- und Schlachtenbildern: „Apothes des Krieges“, „Tödlich verwundet“ und andere; Wasnezow, der sich den russischen Märchen und Heldensagen in seinen berühmten Bildern zugewendet hat: „Drei Recken“, „Aljonuschka“ und Polenow mit seinen Bildern: „Großmütterchens Garten“, „Die Kranke“, „Moskauer kleiner Hof“.

Der nationale Genius des russischen Volkes zeigte sich im 19. Jahrhundert auch im musikalischen Schaffen. Der Stammvater der russischen Oper und der symphonischen Musik war Glinka.

Michail Iwanowitsch Glinka 1804 bis 1857
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Er verwertete den unausschöpflichen Reichtum der Volksweisen, die schöpferischen Errungenschaften der westeuropäischen Musik und schuf geniale Vorbilder der russischen musikalischen Kunst. Glinkas Opern: „Ruslan und Ludmila“ und „Iwan Sussanin“ wurden klassische Werke nicht nur der russischen Musik, sondern auch der Musik der gesamten Welt.

Einen großen Beitrag zur russischen Musikkunst leisteten in den 1860er und 1870er Jahren die Komponisten, die sich in der musikalischen Gemeinschaft „Das mächtige Häuflein“ zusammengeschlossen hatten. Die Komponisten des „Mächtigen Häufleins“; Balakirew, Borodin, Kjui, Mussorgskij und Rimskij-Korssakow: „Schneewittchen“, von Mussorgskij: „Boris Godunow“ und „Chowanschtschina“, stellten zum ersten Mal in der Opernkunst das Volk in der Eigenschaft des Haupthelden des Werkes dar.

Den 80-90er Jahren des 19. Jahrhunderts gehört die Blütezeit des Schaffens Tschaikowskijs an, eines der größten Komponisten der Welt.

Peter Iljitsch Tschaikowskij 1840 bis 1893
Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1

Tschaikowskij gelang es wie keinen anderen, die besten Traditionen der nationalen Kunst mit den hohen allgemeinmenschlichen Gefühlen und Idealen zu einer harmonischen Einheit zu verbinden. Das ist der Grund, weshalb die Menschen der verschiedenen Länder und Völker Tschaikowskijs Musik nachempfinden und verstehen.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich auch das russische Nationaltheater. Mit dem Namen des hervorragenden Künstlers Schtschepkin ist die Blüte des Kleinen Theaters in Moskau verbunden. In diesem Theater traten die großen russischen Schauspieler und Schauspielerinnen auf: Sadowskij, Fedotowa, Jermolowa; in den besten russischen Schauspielnen: „Muttersöhnchen“ von Fonwisin, „Das Unglück, klug zu sein“ von Gribojedow, „Der Revisor“ von Gogol, die Theaterstücke von Ostrowskij und später Tschechow und Gorki. Über die Rolle des Kleinen Theaters äußerten sich die besten russischen Menschen: „Auf der Moskauer Universität haben wir gelernt, im Kleinen Theater sind wir erzogen worden.“

Im Jahre 1917 schrieb der große proletarische Schriftsteller Gorki in Bezug auf die schöpferische Leistung des russischen nationalen Genius im 19. Jahrhundert: „Auf dem Gebiete der Kunst, in der Schaffenskraft des Herzens, hat das russische Volk eine erstaunliche Kraft bewiesen, indem es unter den entsetzlichsten Bedingungen eine herrliche Literatur, eine wunderbare Malerei und eine originale Musik schuf, die die ganze Welt bewundert. Der Mund des Volkes war verschlossen, die Flügel der Seele gebunden, doch sein Herz gebar Dutzende von großen Künstlern des Wortes, des Tones, der Farbe.“

 

Entnommen aus dem Buch „Das Sowjetland“, Band 1 aus dem Jahre 1947, bearbeitet von Petra Reichel

 

 

Original-Autorin: Anna Michailowna Pankratowa

Original-Text aus dem Buch „Das Sowjetland, Band 1

Ein Kommentar zu „Die Entwicklung der russischen Kultur im 19. Jahrhundert

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